Das Mädchen mir den tausend Zöpfen

usbekisches Volksmärchen

In alten Zeiten lebte in Marghilan (eine Stadt im Ferganatal) ein Padischah. Er hatte drei Söhne und eine Tochter. Das Mädchen hatte Haare so dick und lang, wie man sie sonst bei niemand findet. Da seine Haare hinten zusammengeflochten und es sehr viele Zöpfe waren, nannte man es Mingkokil (‚Tausendzöpfchen‘).

Der Padischah hatte seine Tochter sehr gern, aber seine Söhne waren ihm gleichgültig. Dies gefiel den Prinzen nicht und so brachten sie heimlich ihre Schwester auf einen Berg und verkauften sie einem Imam (Vorbeter, Geistlicher) für fünfzehn Tanga (Kleine Silbermünze).

Das Mädchen wuchs auf dem Berg schnell heran und lernte, auf einem Pferd zu reiten, mit dem Pfeil und Bogen zu schießen und ein Schwert zu gebrauchen.

In kurzer Zeit wuchs Mingkokil zu einer vollendeten Schönheit heran. Wenn sie im dunklen Haus ihre Augen öffnete, wurde das Haus hell Die Jünglinge fielen von einem ihrer schmachtenden Blicke in Ohnmacht.

Der Ruf von Mingkokils Schönheit und Anmut kam dem Sultan von Kesch zu Ohren.

"Ein so schönes Mädchen passt für meinen Harem“, sagte er. Ohne lange zu überlegen, belud er zwanzig Dromedare und Kamele mit Gold und schickte seinen Oberwesir auf den Berg, Der Wesir kam zum Dorf, in dem Mingkokil wohnte. Da sah er, dass sich vor einem Haus eine Menschenmenge versammelt hatte. "Was ist hier los?" fragte der Wesir.

"Hier wohnt das wunderschöne Mädchen des Imams, mit Namen Mingkokil, "sagten die Leute. Die Jünglinge, voll Sehnsucht, ihm einen Bück zuwerfen zu dürfen, fürchten sich vor dem Mädchen, wenn es ins Haus geht, denn wen immer es anblickt der wird ohnmächtig.

Der Wesir ging in das Haus des Imams und bot für das Mädchen zwanzig Kamele voll Gold,

Der Imam wollte aber Mingkokil um keinen Preis verkaufen da er, obwohl er schon alt und grau war, sie selbst heiraten wollte! Die arme Mingkokil kannte seine Absicht, aber sie konnte keinen Ausweg finden, sich davor zu bewahren, die Frau des zahnlosen alten Imam zu werden.

Der Wesir ließ am Abend auftragen. Als er den Imam betrunken gemacht hatte, fing er von neuem zu handeln an. Wie der Imam die Goldstücke sah, ergriff ihn die Gier, reich zu werden, und er stimmte dem Verkauf des Mädchens zu.

Der Wesir nahm das Mädchen in der Nacht und sprengte auf seinem Pferd von den Bergen davon.

Als der Imam aufwachte, war das Mädchen verschwunden. Er verfolgte mit den jungen Männern des Dorfes den Wesir und holte ihn auch, ohne weit gehen zu müssen, ein. Der Imam verlangte die Rückkehr des Mädchens, aber der schlaue Wesir lud ihn zu einem Essen ein. Er ließ am Rand einer Felsspalte einen Teppich hinlegen und eine Tischdecke ausbreiten. Als sich der Imam hinsetzen wollte, ergriffen ihn die Diener des Wesirs an Armen und Beinen und warfen ihn in die Felsspalte hinab. Obwohl sich Mingkokil davor fürchtete, die Heimat zu verlassen, musste sie doch wohl oder übel mit dem Wesir gehen. Als nun der Sultan von Kesch das schöne Mädchen sah, wurde er von einer heftigen Liebesglut ergriffen. Er setzte den Tag der Hochzeit fest und überließ sich ganz der Betrachtung von Mingkokils Schönheit.

Es waren nur noch wenige Tage bis zur Hochzeit, da saß Mingkokil auf einer goldenen Terrasse und ihre Blicke blieben auf den fernen Bergen, wo ihre Heimat lag, haften, ganz traurig wurde sie da. Es war ihr nicht im Geringsten danach zu Mute, den alten Sultan zu heiraten.

Da sah sie, wie auf der Straße ein schöner junger Mann seinen Renner bestieg und vorbeiritt. Der Blick des Jünglings und der Blick des Mädchens trafen sich. Der Jüngling verlor die Besinnung und fiel vom Pferd, und auch Mingkokil wurde im Herzen gerührt. Das Mädchen lief aufgeregt zum Haus und fragte eine Dienerin:

"Wer war dieser Jüngling?" Die Dienerin verneigte sich und gab zur Antwort: "Das war der Sohn des Sultans von Kesch, mit Namen Scherali."

Mingkokil stieß einen Seufzer aus, lief wieder auf die Terrasse hinaus, blickte auf die Straße hinab, konnte aber Scherali nicht mehr sehen.

Mingkokil war von da an voller Schmerz und Leid; Scherali aber war irgendwohin verschwunden.

Der Hochzeitstag kam heran. Da fragte der Sultan von Kesch eines Tages:

"Wo ist Scherali?"

Da der Sultan von Kesch von der Schönheit und Vollkommenheit Mingkokils den Verstand verloren hatte, hatte er seine Regierung, sein Volk und auch seinen geliebten Sohn, den Thronfolger, vergessen.

Man sagte dem Sultan, dass sein Sohn krank sei. Der Sultan schlug sich vor die Stirn und fing an zu weinen. Als Mingkokil hörte, wie der Sultan in Gram versunken war, kam sie zu ihm. "Als ich auf dem Berg lebte, lehrte man mich, Heilkräuter zu sammeln und auch die schwersten Krankheiten zu heilen. Sultan, erlaube, dass ich deinem Sohn Scherali den Puls fühle, um ihn zu heilen“, sagte sie.

Der Sultan war mit ihrer Rede einverstanden und befahl, Mingkokil in der Sänfte in das Serail Scheralis zutragen. Kaum sah Scherali Mingkokil, als er schon gesund wurde. Ein Blick des wunderschönen Mädchens war Medizin für das Leid des Prinzen. Schon an diesem Tag verabredeten Scherali und Mingkokil ihre Flucht. Nachdem Mingkokil in ihr Palais zurückgekommen war, zog sie sich wie ein Mann an und ging durch die Gartentür zur Straße. Dort erwartete sie Scherali mit zwei schnellen Pferden.

Am nächsten Tag erfuhr der Sultan das Verschwinden des wunderschönen Mädchens. Als er nach Scherali fragte, berichtete man ihm, dass auch er verschwunden sei.

Der Sultan schickte ihnen einen Mann nach, um sie zu fangen, aber die Wüsten waren weit, die Berge hoch, die Flüsse tief. Hätte er da wohl die beiden Liebenden finden können?

Scherali und Mingkokil trieben aus Furcht vor Verfolgung ihre Pferde Tag und Nacht zur Eile an. Müde und durstig gelangten sie an einen Brunnen in der Wüste. Der Eimer, der an das Brunnenrad gebunden war, war so groß, dass man mit einem Eimer voll Wasser einen großen Teich zum Überlaufen füllen konnte. Diesen Eimer konnten kaum vierzig Leute aus dem Brunnen ziehen.

Scherali versuchte, den Eimer aus dem Brunnen zu ziehen, aber seine Kraft reichte nicht aus. Mingkokil lachte, zog mit ihren zarten Händen den Eimer herauf und füllte einen Teich randvoll.

"Ich bin auf dem Berg aufgewachsen", sagte sie.

Scherali fing an, ein Essen zu kochen, Mingkokil aber schickte sich an, sich im Teich zu baden.

Im Hintergrund aber beobachteten sie vierzig Räuber. Diese wunderten sich darüber, dass ein einziger Jüngling den Eimer herausziehen konnte, den vierzig Männer nur mit Müh und Not ziehen konnten.

Als sie nun sahen, wie Mingkokils Zöpfe beim Schwimmen im Teich auf ihren schneeweißen Schultern ausgebreitet waren, erkannten die Räuber, dass es kein Jüngling, sondern ein Mädchen war.

Der Anführer der Räuber verliebte sich in Mingkokil Er rief die Räuber zu sich und befahl ihnen:

"Geht zum Brunnen, ergreift das Mädchen und bringt sie mir." Die Räuber gingen hin, zogen ihre Säbel und sagten zu Scherali:

"Gib das schöne Mädchen her oder wir töten dich." Scherali fing vor Angst zu zittern an:

"Was soll ich tun?" sagte er zu dem Mädchen, "sie sind zu zehnt, ich aber bin allein. Es ist gut, wenn ich gehorche, andernfalls werden sie mich töten." Mingkokil wurde ärgerlich, rief:

"Geh zur Seite, damit dich mein Säbel nicht berührt!", stieg aufs Pferd, riss den Säbel aus der Scheide und stürzte sich auf die fassungslosen Räuber wie ein Tiger. Im Nu waren die Köpfe der zehn Räuber abgeschlagen. Die übrigen Räuber überkam die Angst, sie schwangen sich auf ihre Pferde und ritten auf und davon; Mingkokil aber holte sie ein und säbelte sie nieder. Als der Räuberhauptmann sah, dass ihm der Tod gewiss war, fiel er vom Pferd, färbte sich mit Blut und lag da wie ein Toter. Mingkokil kam zu Scherali und sagte: "Ich bin auf dem Berg aufgewachsen."

Sie stiegen wieder auf ihre Pferde und machten sich auf den Weg; als sie weg waren, machte sich der Räuberhauptmann auf und folgte ihrer Spur.

Mingkokil und Scherali gelangten zu einer alleinstehenden Hütte und hielten dort an, um ihre Pferde verschnaufen zu lassen und etwas auszuruhen.

Es kam der Abend und es wurde dunkel; als der Räuber zur Hütte kroch, wieherte Scheralis Pferd. Vor Angst kletterte der Räuber auf einen Baum.

Scherali kam in den Hof, schaute nach allen Seiten und ging, als er niemand sah, wieder ins Haus zurück.

Der Räuber kletterte vom Baum herab, fing wieder an, zur Hütte zu kriechen, und von neuem wieherte das Pferd. Scherali kam wieder in den Hof und als er niemand sah, fing er an, sein Pferd zu peitschen.

Als Mingkokil dies hörte, lief sie in den Hof und fragte:

"Warum schlägst du das Pferd? Auf unseren Bergen war so etwas nicht üblich"

Als sie zum Pferd hinblickte, sah sie, wie es den Kopf wendete und auf den Baum blickte. Da sah Mingkokil den Mann, der auf dem Baum saß, und sie schoss mit einem Pfeil nach ihm.

Der Räuber fiel herab und starb.

Punkt Mitternacht erhob sich ein Wind und es kam vom Berg ein Dew (der Unmensch, das Untier) herangeflogen. Mingkokil wachte auf und rief: "Scherali hilf!"

Aber als Scherali den schrecklichen Dew erblickte, da fiel er nieder und fing zu beten an.

Scherali erhob den Kopf und blickte ringsherum, aber es war bereits zu spät. Weinend machte er sich auf den Weg. Nachdem Scherali einige Tage dahingeritten war, kam er endlich zum Berg, auf dem der Dew wohnte. Die Wohnung des Dews war von einer hohen, eisernen Burgmauer umgeben, die keine Türen hatte, da der Dew wegen seiner Flügel keinen Ausgang brauchte.

Als Scherali über die Mauer gestiegen war, kam er in einen wunderbaren, paradiesischen Garten. Überall rieselten Bäche, zwitscherten Paradiesvögel auf den Bäumen und öffneten sich Blumen, um ihren Duft zu verströmen.

Scherali suchte Mingkokil, fand sie schlafend in einem smaragdenen Sommerkiosk und weckte sie auf.

"Wir müssen schnellstens von hier weg", sagte das Mädchen, "gleich kommt der Dew angeflogen und es wird dir Ärmsten übel ergehen."

Sie kletterten über den Burgwall, bestiegen ihre Pferde und machten sich davon. Sogleich donnerte es und der schreckliche Dew kam angeflogen und beschoss die Fliehenden mit einem brennenden Pfeil. Aus Furcht versteckte sich Scherali hinter einem Felsen. Mingkokil aber ergriff, ohne den Kopf zu verlieren, Scheralis Säbel, wandte sich gegen den Dew: Doch als sie auf ihn einhieb, wurde es überall finster und es ertönte ein Donnerschlag. Scherali und Mingkokil fielen besinnungslos zu Boden.

Als sie wieder zu sich kamen ihre Augen öffneten, - da war es überall hell und neben ihnen stand ein strahlender Jüngling,

Der Jüngling verbeugte sich vor dem Mädchen und sprach: "O wunderbare Schönheit! Es sind schon viele Jahre, seit mich eine grausame Hexe in einen besessenen, schrecklichen Dew verzaubert hat. Ich habe mich auf den ersten Blick in dich verliebt und dich aus der Hütte entführt. Leider habe ich wegen meines furchterregenden Aussehens es nicht gewagt mich dir zu nähern. Als du mich mit deiner zarten Hand mit dem Säbel geschlagen hast, hast du mich vom Zauber erlöst. Ich habe mich jetzt wieder in einen Menschen verwandelt. Werde meine Frau!"

Mingkokil blickte scheu den Mann an, ihre Wangen röteten sich und sie streckte dem tapferen Dew die Hand hin. Sie stiegen aufs Pferd und ritten davon.

Scherali aber kehrte nach Kesch zurück, um seinen Vater um Vergebung zu bitten.