Der Vielfrass

Märchen aus Tibet

In unserer Gegend lebte früher ein steinreicher Herr. Niemand wusste, wieviel Rinder und Schafe er eigentlich sein eigen nannte. Die Leute erzählten sich, dass man hundert große lederne Packtaschen mit »Xiuba«, den klingenden Kupfermünzen, füllen könnte, käme es zum Verkaufseiner Herden. Würden seine Rinder und Schafe einmal alle zur gleichen Zeit mit den Füßen aufstampfen, dann gäbe es einen gewaltigen Donner. Dieser Herr hatte immer einen kugelrunden Bauch. Das kam daher, weil er den ganzen Tag nur gute Bissen in sich hineinstopfte.
Eines Tages hatte er gerade eine Hammelkeule gegessen und sich das Fett vom Munde gewischt, als er plötzlich seinen Knecht Hunger! « rufen hörte. Er fragte ihn daraufhin im Zelt: »Du schreist Tag für Tag vor Hunger herum. Was ist denn der Hunger eigentlich für ein Gefühl? «
Die Augenbrauen des Dieners zogen sich zusammen, als er zur Antwort gab: »Gnädiger Herr, der Hunger ist schwer zu ertragen. Zuerst hat man im Magen ein Schmerzgefühl, dann lassen die Kräfte nach, und der Körper wird schwach, die Glieder beginnen zu schmerzen. Ob man sich setzt oder gar legt, immer ist einem übel. Dauert der Hunger an, dann pocht das Herz wie rasend, bis es einem schwarz vor den Augen wird. Gnädiger Herr, lieber würde ich dreihundert Peitschenhiebe freiwillig auf mich nehmen, als mich mit dem Hunger einzulassen. «
Vor Staunen blieb dem Herrn der Mund offen stehen. Neugier und Furcht regten sich in ihm. Aber er konnte sich noch immer nicht vorstellen, was der Hunger für ein Gefühl ist. Daher fragte er wieder: »Ist der Hunger nicht doch etwas besser als Krankheit? «
Aber nein, gnädiger Herr! « Antwortete der Diener. » Eine Krankheit dauert gewöhnlich nur drei bis fünf Tage. Dann ist man entweder tot oder man hat sie überstanden. Würgt Euch jedoch der Hunger, dann geht es durchaus nicht so schnell zu Ende. Niemand weiß, ob Ihr wieder auf die Beine kommt oder wann Ihr Euer Leben aushaucht. «
O weh, o weh! « stieß der Herr aus, »so ist das also! «
Wenn der Herr seitdem auch nur an den Hunger dachte, wurde »eine Angst vor ihm immer größer, gerade als ob ihm der Hunger im Genick säße. Er dachte darüber nach, was wohl aus seinen Rindern und Schafen würde, wenn er jetzt sterben müsste. Schaute er hinter sich auf die vielen Säcke mit Gerstenmehl, machte er sich Sorgen um seinen schneeweißen Tsamba. Und wo würde erst die schöne Butter hingeraten, wenn er einmal nicht mehr lebte?
»Also viel essen! « sagte der Herr zu sich selbst, »wenn mir wirklich einmal etwas zustoßen sollte, will ich alles aufgegessen haben! « Jetzt fing der Herr erst richtig an, maßlos zu essen. Als er nach dem Genuss von sechs Schalen Buttertee mit Tsamba und hinterher zwei Hammelkeulen gerade ein wenig verschnaufen wollte, fiel ihm ein, was doch der Hunger für furchtbare Schrecken mit sich bringt. Da aß er noch eine halbe Hammelkeule. Er wischte sich den Mund und sah sich in seinem Zelt um. Da hingen getrocknete Hammelkeulen und Lendenstücke die Fülle am Haken. Wann wird das alles aufgegessen sein? Hastig fuhr der steinreiche Herr in die Höhe und holte sich noch eine Hammelkeule herab.
Je mehr er in sich hineinstopfte, desto übler wurde ihm. Plötzlich spürte er so heftige Schmerzen im Bauch, dass er stöhnte. Der Diener meinte, sein Herr sei krank geworden und kam sogleich in das Zelt gelaufen.
»Gnädiger Herr, was ist Ihnen? «
Dieser wollte aber nicht, dass der Diener die Quelle seines Unwohlseins erfahren sollte. Er winkte ihm daher ab. »Geh nur wieder, es ist nichts. Ich fühle mich kräftig wie ein Löwe! «
Die Schmerzen ließen aber nicht nach. Setzte er sich auf, wurde ihm schlecht, und legte er sich nieder, wurde ihm übel. »Aus, alles ist aus! « sagte sich der Herr. » Wenn ich etwas schneller esse, kann ich vielleicht den Tod aufhalten! « Und er machte sich wieder an die Hammelkeule. Jetzt wurde er auf seinen Bauch und auf seinen Mund zornig, weil beide so wenig fassen konnten.
»Man müsste auf einen Biss ein Schaf oder einen halben Yak verschlingen können! «
Je mehr der Herr aß, desto schlechter wurde ihm.
Da schaute der Diener wieder besorgt zum Zelt herein und sagte: »Gnädiger Herr! Es ist zu befürchten, dass Sie sich übernehmen beim Essen. Vielleicht solltet Ihr doch besser einmal aufhören! «
»Nein, nein! Es ist gar nichts. Geh nur! « antwortete der Herr. Als der Knecht gegangen war, machte sich der Herr noch einmal über die Hammelkeule her. Er aß und aß, bis er sich ganz und gar nicht mehr rühren konnte. Bald kam der Knecht wieder herein und fragte: »Gnädiger Herr, seid Ihr krank? « Dem Herrn quollen die Augen aus den Höhlen, als er sagte: »Mein lieber Knecht! Ich fürchte nur zu sehr, dass mich der Hunger würgt, wie Du es mir beschrieben hast. «
Teils erstaunt und teils belustigt sprach der Knecht zu seinem Herrn: »Ihr habt Euch einfach überfressen! «
»O nein! Es geht mit mir zu Ende. Der Hunger würgt mich. Beim Namen des heiligen Buddha sage ich dir das. O weh, o weh! Mir wird ganz schwarz vor den Augen. Gerne möchte ich dreihundert Hiebe ertragen - aber nur nicht verhungern! «
Der Knecht meinte nun, dass der Herr wirklich verrückt geworden sei. Daher nahm er ihm die Hammelkeule aus den Händen. Aber wer hätte das gedacht; plötzlich kreischte der Herr Vielfraß auf: »Noch bin ich nicht tot, und da schleppst du schon mein Hammelfleisch davon! «