Die hinterhältige Mutter

Märchen aus Brasilien

Es war einmal ein starker und mutiger Mann. Er hieß Pedro. Er lebte mit seiner Frau Maria auf dem Lande. In der Einöde ernährten sie sich vom Wild. Hier wurde ihnen der Sohn João geboren.
Als João sieben Jahre alt war, starb sein Vater. Da das ländliche Leben für ihn einsam war, bat er seine Mutter, vom Lande in die Stadt wegzuziehen. Die Mutter fand sich auch dazu bereit. Sie packten all ihr Hab und Gut — ein Pferd, eine Flinte und ein Buschmesser — und kamen gegen Abend in die Stadt. João durchwanderte die ganze Stadt und sah keinen Menschen; er klopfte an alle Türen, und niemand gab ihm Antwort. Er begab sich dann zu einem Herrenhaus, das einzige, welches er offen fand, trat ein, sprach, und niemand antwortete. Er stieg die Treppe hinauf, durchsuchte das ganze Haus und traf keine lebende Seele an. Ein einziges Zimmer war zu, während alle anderen offenstanden. Hier quartierte er sich mit der Mutter ein und verbrachte die Nacht. Am nächsten Tag sah er keinen Menschen in der Stadt, und es rührte sich auch kein Lüftchen. Da er nichts mehr zu essen hatte, ging er auf die Jagd, wie es sein Vater zu tun pflegte. Als er auf der Jagd war, stellte sich seiner Mutter im Herrenhaus ein Riese vor, der zu ihr sagte, er werde sie umbringen, weil sie sich des Hauses ohne Erlaubnis bemächtigt habe; da sie aber ein Weib sei, wolle er sie nicht töten unter der Bedingung, dass sie mit ihm zusammenlebe.
Die Frau antwortete ihm, sie habe einen Sohn bei sich. Da sagte der Riese:
»Deinen Sohn fresse ich auf! «
»Mit meinem Sohn wirst du nicht fertig! «
»Ist er denn kein Mann? «
»Und was für einer!«
»Wie werde ich mit ihm nicht fertig, wenn ich mit den Menschen dieser Stadt fertig geworden bin und sie alle umgebracht habe? «
»Du wirst mit meinem Sohn nicht fertig, er hat viel Kraft! « »Gut, wenn nicht, dann höre, wie du ihm den Garaus machst: Wenn er zurückkehrt, sollst du dich krank stellen, und vor lauter Augenschmerzen schreien. Für solch ein Übel gibt es nur eine Arznei, nicht wahr, das Fett einer Schlange des Waldes; wird er mit der Schlange nicht fertig, zerreißt die Schlange seine Haut! «
Als der Sohn von der Jagd kam, tat die Frau genauso, wie es ihr der Riese beigebracht hatte. Der junge Mann drehte sich um und machte sich auf und davon in den Wald. Unterwegs begegnete er einem Alten, der ihn fragte, wohin er eile. Er erwiderte, er müsse die Schlange töten und aus der Schlange das Fett nehmen, um die kranken Augen der Mutter zu heilen. Der Alte sagte zu ihm:
»Geh nicht hin, denn mit der Schlange wirst du nicht fertig. « »Da es für meine Mutter ist, gehe ich doch hin, komme, was wolle! « antwortete der junge Mann. Der Alte sagte: »Schon gut, geh, du wirst Glück haben! « Er ging, tötete die Schlange und nahm das Fett heraus. Bei der Rückkehr kam er am Haus desselben Alten vorbei, der ihn zum Abendbrot einlud. Unterdessen ließ der Alte ein Huhn schlachten, das Fett herausnehmen und es mit dem der Schlange vertauschen. Dies tat die Magd, die der Alte bei sich großzog. João setzte seinen Weg fort Und zu Hause tröpfelte er das Fett in die Augen der Mutter, die dabei nicht litt, da sie an nichts gelitten hatte.
Am nächsten Tag war der Riese erstaunt; da João bereits auf der Jagd war, sagte er:
»Wirklich wahr, dein Sohn ist schon ein Kerl! Morgen tu das gleiche und sage ihm, es ist hier im Wald ein Stachelschwein, dessen Fett die richtige Arznei für dich ist. Da er mit dem Stachelschwein nicht fertig werden kann, wird er sterben, und wir werden ihn los. «
Maria heuchelte abermals, und der Sohn kehrte in den Wald zurück, um das Stachelschwein zu töten. Wieder kam er am Hause des Alten vorbei, der ihm davon abriet. Der junge Mann blieb bei seinem Vorhaben.
»Schon gut«, sagte der Alte, »geh, du wirst Glück haben. «
Er ging, tötete das Stachelschwein und kam wieder am Haus des Alten vorbei, der ihn zum Abendbrot einlud. Der Alte ließ ein anderes Huhn schlachten und dessen Fett mit dem des Stachelschweines vertauschen. João machte sich auf den Weg zur Stadt und zu Hause goss er das Fett in die Augen der Mutter, der nichts fehlte.
Am nächsten Tag ging der Sohn wieder auf die Jagd. Da kam der Riese auch wieder. Kaum hatte er sich von seinem Erstaunen erholt, sagte er:
»Jetzt nimm diese Stricke und sage ihm, er könne sie nicht zerreißen. «
Die Frau tat so. Als der Sohn zurück war, sagte die Mutter: »Du bist so ein Mann, dass nicht einmal dein Vater tat, was du tust; aber wenn du dich mit diesen Stricken anbindest, kannst du sie nicht zerreißen. «
João nahm die Wette an, wurde von der Mutter mit den Stricken festgebunden, strengte sich etwas an und zerriss die Stricke. Die Mutter sagte dann zu ihm: »Du bist so stark wie dreißig Männer! «
Am nächsten Tag ging João auf die Jagd. Der Riese kam, und als er das Geschehene mit Staunen und Grauen erfuhr, sagte er:
»Morgen sage ihm, er könne diese Ketten nicht zerbrechen. « So tat Maria, als der Sohn nach Hause kam. »Das nicht, meine Mutter, Ketten kann ich nicht zerbrechen. «
»Du kannst, mein Sohn, versuche es mal! «
»Da es Euer Wunsch ist, versuchen wir es! «
Die Mutter band den Sohn mit den Ketten fest, er setzte alle Kräfte ein und konnte die Ketten nicht zerbrechen. Da tauchte der Riese mit einem Buschmesser auf und stürzte sich auf den Sohn los, um ihn zu töten. João sagte zu ihm:
»Du kannst mich umbringen, aber vorher sollst du mir versprechen, drei Bitten zu erfüllen. «
»Zwanzig erfülle ich, umso mehr drei! «
Die drei Bitten von João waren:
»Du darfst die Sachen, die mir mein Vater hinterließ, nicht gebrauchen, weder das Pferd noch die Flinte noch das Busch-messer.
Nach meinem Tode darfst du meine Leiche nicht schänden, sondern du sollst sie in fünf Stücke teilen. Dann sollst du alles mit der Flinte und dem Buschmesser zusammen in zwei Körben auf das Pferd legen. «
Und so tat der Riese auch. Das Pferd raste von dannen und kam zum Hause des Alten. Die Magd lief ans Fenster und erkannte Joãos Pferd wieder. Sie rief den Alten, der eilends herbeikam:
»Meine Tochter, was du dort siehst, ist der tote João in den Körben; hole schnell das Pferd herbei, ich will unserem João das Leben wiedergeben. «
Der Alte bat um das Fett der Schlange und fügte damit die Teile der Leiche von João zusammen, der sofort geheilt wurde.
»Spürst du etwas, oder fehlt dir was? « fragte der Alte. »Es fehlt mir das Augenlicht!«
Der Alte bat um das Fett des Stachelschweines und schmierte es auf die Augen von João, der sofort das Augenlicht wiedererlangte.
»Greif nun zu deinen Waffen«, sagte der Alte, »geh nach Hause und tue das gleiche oder noch Schlimmeres. «
João machte sich auf den Weg, langte zu Hause an, wo er seine Mutter im Schlaf mit dem Riesen vorfanden, jagte dem Ungeheuer das Buschmesser in die Brust und tötete es. Die Mutter warf sich ihm zu Füßen und bat ihn, er möge sie nicht umbringen. João ließ sie aufstehen und versprach, er werde ihr nichts antun, weil sie seine Mutter sei.
Er ging dann zum Alten, um ihm alles zu erzählen, und wie er die Mutter verschont hatte. Der Alte lobte seine Tat und sagte, er sei sein Schutzengel, der ihn verteidigt habe. Dann verschwand der Alte in den Himmel. ..
Und João heiratete die Magd, die der Alte großgezogen hatte.