Prinz Yangnyung und die Kisäng

Märchen aus Korea

Die Mondstrahlen glitten über die glänzenden Wellen des Lotosteiches im Garten des Statthalters und küssten die tanzenden Lotosblüten im Mitternachtsschlummer. Prinz Yang¬nyung stand am Rande des Teiches und starrte in den Sternenhimmel. Er sah einen Komet, der am Himmel segelte, dann blickte er wieder auf den Teich und lächelte seinem Schatten zu, der sich vor dem wässrigen Spiegel abhob.
»Ah«, seufzte er, »ich machte einen Esel aus mir, und nun werde ich alt. Ziellos bin ich viele mühselige Meilen durch das Land gewandert; ein Bambusstab war mein einziger Begleiter und Strohschuhe meine Dienerschaft. Mein jüngerer Bruder Choongnyung ist nun mein König, und ich bin im freiwilligen Exil, fern von Heim und Palast. An diesem Abend veranstaltete der Statthalter von Pyoungyang ein Kisäng-Fest für mich und gab mir seine Zeremonienhalle als Wohnstatt. Die hübschen Kisängs sangen, tanzten und drückten Weinschalen an meine Lippen. Doch ich mache mir nichts aus Wein und Mädchen. Mir sagt es mehr, diese duftende Luft zu atmen, die von den goldenen Herzen der Lotosblüten strömt. Wie sie doch ihre hübschen Köpfchen schütteln und ihre schlanken Taillen so stolz gegen den Himmel schwingen. Ich fühle meine Jugend zurückkehren, denn mein Herz hüpft vor Freude und tanzt mit den Lotosblüten. «
Nach einer Weile Betrachtung wandte sich Prinz Yangnyung um, um zu seiner einsamen Zeremonienhalle zurückzukehren, als plötzlich ein Hahn krähend über die Hecken schwirrte und direkt auf ihn zustürmte. Ein hübscher Jüngling, gefolgt von einer jungen Frau in weißem Kleid, rannte hinter dem Geflügel her und fing es bei seinen flatternden Schwingen.
Dann rief der Jüngling: »Schwester, ich werde diesen Hahn töten und zu einer guten Suppe kochen, während du vorausgehst und das Abendmahl für deinen Gatten bereitest. Wir müssen heute seinem hungrigen Geist Speise geben. « — Die junge Frau schluchzte auf und verschwand wieder hinter den Hecken.
Prinz Yangnyung stand eine lange Weile bewegungslos. Die faszinierende Schönheit der jungen Frau im weißen Kleid hatte sein Herz tief gerührt. Er konnte den Zauber des Augenblicks nicht wegwischen und hielt diese schöne Erscheinung in seinen Sinnen fest.
Während seiner langen Wanderjahre hatte Liebe niemals so stark sein armes Herz gerührt. Als ob er auf einem Ballon ritt, brachten ihn seine Füße zu dem Garten hinter der Hecke, und nun stand er unter dem Fenster ihrer einsamen Laube. Durch das Fenster konnte er ihre Stimme sanfte Liebenswerte für ihren toten Ehegemahl murmeln hören. Sie goss Wein in eine Schale, legte Essstäbchen über ein dampfendes Gericht von Fisch und Gemüse und legte einen Porzellanlöffel auf eine Schale dampfender Suppe. Und sie betete:
»Mein Ehegemahl, speist und seid fröhlich. Ihr müsst hungrig sein, denn seit Ihr hingeschieden seid, brachte ich Euch nur an großen Tagen Nahrung dar: an dieser ersten tragischen Erinnerungsnacht vor einem Jahr und heute, wenn das zweite Jahr rund wird. Mit dem Hahnenschrei wird mich Euer Geist verlassen, und ich werde dieses weiße Witwengewand ablegen. So esst Euch satt, ehe Ihr Euch wieder auf die Reise in das Lotosparadies macht. « — Sie schluchzte und fiel ohnmächtig auf den Boden.
Prinz Yangnyung sprang in den Raum, rieb ihre Hände und Füße und presste eine Schale kalten Wassers auf ihre Lippen, bis die Rosen auf ihre Wangen zurückkehrten. Nach einer Weile öffnete sie ihre Augen, setzte sich auf und streifte ihr Haar mit ihrer Lilienhand zurück. Dann murmelte sie:
»Oh, wer seid Ihr? Was brachte Euch her, und wer war der Führer, dass Ihr in das Haus einer einsamen Frau eindringt? «
Prinz Yangnyung antwortete: »Ich bin ein einsamer Reisender von Seoul und nun ein Gast des Statthalters. Ich sah das Wettlaufen nach dem Hahn am Ufer des mondbeleuchteten Lotosteiches, und ich fand einen schöneren Mond und einen süßeren Lotos in Eurer Person. Liebe war mein Führer, die mich über die Hecken hierher brachte. Nun habe ich alles über Euch durch Eure eigene Erzählung erfahren. Und ich liebe Euch mehr für Eure Treue zu Eurem Gemahl. Der Hahn wird bald krähen und Euch von Eurer Witwentracht befreien. Ich liebe Euch, und Ihr müsst mich heiraten. «
Die junge Frau blickte mit Tränen in den Augen zu dem Prinzen auf und sprach mit leiser Stimme: »Diese außergewöhnliche Liebesszene zeugt von einer merkwürdig starken Beziehung zwischen Euch und mir. Doch ich stamme von einer edlen Familie, und eine zweite Heirat ist mir verboten. «
Prinz Yangnyung antwortete: »Solange ich Euer Ehegemahl bin, wird niemand übel von Euch sprechen. « — Dann umarmte er ihre schlanke Hüfte, küsste ihre Kirschlippen und murmelte süße Worte. Die junge Frau errötete, berührte ihre goldene Haarnadel mit zarten Fingern und sprach:
»Die Liebe eines Mannes ist nicht in seinem Herzen, sondern in seinen Augen. Wenn Ihr mich so sehr liebt, dann müsst Ihr mir auch ein Pfand Eurer Liebe geben. « Sie breitete ein seidenes Hemd auf dem Boden aus und rieb chinesische Tinte mit Wasser auf einen Stein, auf dem ein Phönix Paar, Schnabel an Schnabel, eingraviert war. Dann reichte sie ihrem Verehrer den Pinsel.
Prinz Yangnyung fragte: »Wie ist Euer Mädchenname, oh schöne Blume? «
»Ich bin Ta-hong«, antwortete sie, und als sie errötete, schien sie selbst Duft und Blüte zu sein. »Blütenknospe! Wahrlich ein Name, der wohl zu Eurer Jugend und zu Eurer Schönheit passt — und zu meiner Ehe-gemahlin«, sprach der Prinz und schrieb ein Gedicht auf das Seidenhemd. Er rühmte ihre Lieblichkeit und versprach, niemals von ihr zu scheiden, sollten auch die Maulbeerbüsche zur blauen See werden und die blaue See zu Maulbeerbäumen. Ta-hong faltete das Hemd zusammen und legte es in ihre Truhe zurück. Dann wechselte sie ihr Gewand und erschien wieder vor dem Prinzen als Braut gekleidet. In diesem Augenblick hörte man das schrille Krähen eines Hahnes, der bald von all seinen Artgenossen in der Nachbarschaft begleitet wurde. Für den glücklichen Prinzen ertönte es wie Hochzeitsglocken. Bald gingen die Kerzen aus, und der Mond flutete sein warmes Licht über das Gesicht von Ta-hong.
Prinz Yangnyung küsste sie und verbrachte die erste Nacht in schlafloser Freude mit ihr. Vor Tagesanbruch am nächsten Morgen gab der Prinz seiner Ehegemahlin einen Abschiedskuss und ging zurück in seine Zeremonienhalle. Bei Tagesanbruch kamen die Statthalter und ein Bote des Königs. Sein Bruder begehrte ihn im Königspalast in Seoul zu sehen.
Einige Tage später erreichte Prinz Yangnyung den Palast, wo der König ein Willkommensfest mit viel Pomp und Feierlichkeit für seinen Bruder bereitet hatte. Die Hofmusik erklang in seltener Harmonie aller Instrumente, während ausgewählte Schönheiten einen klassischen Tanz begannen. Unter diesen Schönheiten befand sich eine Kisäng, die Ta-hong sehr ähnlich sah. Prinz Yangnyung betrachtete sie immer aufmerksamer. Sein Herz schlug laut und schnell, denn als sie näher kam, konnte er das Gedicht in eigener Handschrift auf ihrem schwingenden Rock erkennen. Der Prinz fiel in Erstaunen und murmelte:
»Es ist wahrlich Ta-hong! Sie folgte mir nach Seoul, so wie alle Frauen ihrem Gatten folgen sollen. « Ta-hong setzte sich vor dem Prinzen nieder, presste eine Weinschale an seine Lippen und sang sein eigenes Gedicht, während der König lächelte.
Prinz Yangnyung war in eine Falle gegangen. Er wusste nun, dass er sich in eine schöne Kisäng von Pyoungyang verliebt hatte. Es war eine Falle, die von seinem eigenen Bruder angeregt und von dem Statthalter ausgeführt worden war. Trotzdem heiratete der Prinz — treu seinem Versprechen — Ta-hong. Er bereute es nie, ihre gegenseitige Liebe schwand nicht und wurde nie geringer.