Gevatter Wolf und die Geißlein

Spanisches Märchen - Katalonien

Es war einmal eine Herde von Geißlein, die lebten zusammen mit ihrer Mutter auf einem großen Hof. Die Geißlein waren noch so klein und unerfahren, dass sie sich noch nicht selbst ihr Gras zum Fressen suchen konnten. Das machte ihre Mutter für sie. Immer, wenn die Geißenmutter fortging, um für ihre Kinder Gras zu holen, schärfte sie den Kleinen ein, auf keinen Fall und für niemand die Tür zu öffnen, weil der Wolf kommen und sie verschlingen könne. Sie sagte zu ihnen auch: »Schaut nur immer unten durch den Türspalt, dann werdet ihr gleich erkennen können, ob ihr meine weißen Pfoten seht oder eine fremde! «

Wenn die Mutter aber vom Feld nach Hause zurückkehrte, dann sang sie, damit ihre Kinder sie erkennen könnten und ihr dann öffneten:

»Obrin, obrin cabretes, Que us porto herbetes Obrin, obrin, obrin! «

»Macht auf, macht auf, ihr Geißlein, Ich bring' euch zarte Reislein. -Macht auf, macht auf, macht auf! «

Dann schauten die kleinen Geißlein unter dem Türspalt hindurch, erkannten die Pfoten ihrer Mutter und öffneten ihr schnell. »Weiße Pfoten — unsere Mama!« Der böse Wolf beobachtete eines Tages, wie die Geißenmutter zu ihrem Hof zurückkehrte, und hörte, was sie sang, damit ihr die Tür geöffnet wurde. Da dachte er: >Das kann ich auch! <, denn er hatte großen Appetit auf die Geißlein. Er wartete also, bis die Geißenmutter wieder einmal weggegangen war, um für ihre Kinder Gras zu schneiden. Dann ging er hin und sang mit seiner heiseren Stimme:

» Obrau, obrau, cabrotes, Que us porto herbotes. Obrau, obrau, obrau! «

Sperrt auf, sperrt auf, ihr Ziegen, Das Gras sollt ihr gleich kriegen. Sperrt auf, sperrt auf, sperrt auf!

Da merkten die Kinder gleich am Gesang, dass das nicht ihre Mutter war, und sagten: »Das ist der Wolf! Wir öffnen nicht. « Da schlich der Wolf fort und dachte über seinen Fehler nach. Er beobachtete genau, was die Alte sang, damit ihr geöffnet wurde. Am nächsten Tage aber ging er wieder zu dem Hof und sang diesmal im Falsett genau die Worte, die er von der alten Geiß gehört hatte:

»Macht auf, macht auf, ihr Geißlein, Ich bring' euch zarte Reislein. Macht auf, macht auf, macht auf! «

Da sagten die Geißlein zu ihm: »Stell dich vor die Tür, damit wir deine Pfoten sehen können! « Der Wolf tat, w7ie ihm geheißen; die Geißen aber schrien: »Schwarze Pfoten! Es ist der böse Wolf! Wir öffnen nicht, es ist der Wolf! « Eines schönen Tages, was macht da der Wolf? Es lebte in der Nähe eine Frau, die hatte Wäsche zum Bleichen ausgebreitet. Der Wolf geht hin und nimmt sich ein Stück Leinen mit. Das riss er in Streifen, wickelte es um seine Pfoten und nähte es mit einem Faden fest, so dass es aussah, als hätte er weiße Pfoten. Dann machte er sich erneut auf den Weg zum Hof der Geißlein. Dort sang er wieder mit hoher Stimme die ganze Strophe:

»Macht auf, macht auf, ihr Geißlein, Ich bring' euch zarte Reislein. Macht auf, macht auf, macht auf! «

Die Geißlein, die an der Stimme nicht merkten, dass es der Wolf war, sagten: »Stell dich vor die Tür, damit wir deine Pfoten sehen können! « Der Wolf stellte sich ganz nahe vor die Tür, und die Geißlein sahen die weißen Pfoten und riefen: »Weiße Pfoten — unsere Mama! « Und ohne an etwas Böses zu denken, öffneten sie die Pforte. Da stürzte sich der Wolf in das Haus, und, hast du nicht gesehen, in einem Augenblick verschlang er alle Geißlein. Nur das kleinste hatte sich blitzschnell unter einem Schrank versteckt, und da konnte es der Wolf nicht finden. Als der Wolf alle gefressen hatte, wollte er entfliehen, aber sein Bauch war so schwer und voll, dass er nicht weit kam. Er musste sich hinsetzen, um erst einmal richtig zu verschnaufen.

Indessen kam die alte Geiß zurück. Sie fand die Tür offen und erschrak gewaltig. Sie trat ein und fand keine Seele in ihrem Hause, da konnte sie sich schon denken, was sich zugetragen hatte. Sie konnte vor Weinen kaum mehr rufen: »Meine Kinder! Ach, meine Kinder!« Da kam das Kleinste unter dem Kasten hervorgekrochen, wo es sich versteckt hatte, und erzählte der Mutter alles. Als die alte Geiß hörte, dass der Wolf alle ihre Kinder verschlungen hatte, nahm sie ein großes Taschenmesser und machte sich auf den Weg, den Unhold zu suchen. Sie brauchte nicht weit zu gehen, da lag er in der Sonne und wusste sich kaum noch zu rühren, so voll war sein Wanst von den Geißlein, die er gefressen hatte. Die Alte aber stellte sich, als wüsste sie von nichts, und sagte zu ihm: »Komm, willst du nicht mit mir etwas spielen? « — »Gut! Spielen wir! « — »Willst du Kopfstoßen spielen? — »Ja.« Da versuchte der Wolf, tapsend wie ein kleines Kind, mit der Geiß Kopfstoßen zu spielen. Sein voller Bauch behinderte ihn sehr, und er wich schwerfällig den Stößen der Alten aus. Diese aber stieß ihm, als sie wieder zusammenprallten, das Taschenmesser, das sie heimlich gezogen hatte, in die Bauchdecke und schlitzte ihm den ganzen Wanst auf. Da krochen sogleich die Geißlein heraus, und als sie ihre Mutter sahen, sprangen sie und tanzten vor Freude. Der Wolf aber blieb mit seinem aufgeschlitzten Bauch und heraushängenden Eingeweiden liegen.