Die schlaue Ileane

Rumänisches Märchen

Es war einmal, was einmal war, wäre es nicht gewesen, würde es nicht erzählt.
Es war einmal ein Kaiser, der hatte drei Töchter, von denen die älteste schön war, die mittlere schöner, die jüngste, Ileane, aber so schön, dass sogar die heilige Sonne stehen blieb, um sie zu sehen und sich an ihrer Schönheit zu erfreuen.
Eines Tages erhielt der Kaiser Nachricht und Kunde von seinem Nachbarn, einem großen und mächtigen Kaiser, dass es nicht mehr gut sei, dass er sich mit ihm schlagen wollte wegen einer großen, kaiserlichen Fehde. Der Kaiser hielt Rat mit den Alten des Landes, und als er sah, dass er nicht anders könne, befahl er den Tapferen allen, das Streitross zu besteigen, ihre Waffen zu ergreifen und sich auf die furchtbare Schlacht vorzubereiten, die geschlagen werden sollte. Ehe er selbst zu Pferd stieg, rief der Kaiser seine Töchter zu sich, sagte ihnen eindringliche und väterliche Worte und gab dann einer jeden je eine schöne Blume, ein munteres Vögelein und einen rotbackigen Apfel.
»Wem die Blume welkt, wem das Vögelein traurig wird und wem der Apfel fault, von dem werde ich wissen, dass er die Treue nicht bewahrt hat«, sprach der kluge Kaiser, bestieg dann wieder das Pferd, wünschte ihnen »Gutes Wohlergehen« und machte sich mit seinen Tapferen auf den schweren Weg.
Als die drei Söhne des Nachbarkaisers die Kunde bekamen, dass der Kaiser sich auf den Weg gemacht und von Hause aufgebrochen sei, verständigten sie sich untereinander und bestiegen ihr Ross, um zu dem Schloss mit den drei Kaisertöchtern zu eilen, die Töchter ihrer Treue abspenstig zu machen. Der älteste der Kaisersöhne, mutig, heldenhaft und schön wie er war, ging voran, um zu sehen, wie es sei und stehe, um Kunde zu bringen und Nachricht darüber zu geben.
Drei Tage und drei Nächte stand der Held unter der Mauer, ohne dass sich eines der Mädchen am Fenster gezeigt hätte. Im Morgengrauen des vierten Tages verlor er die Geduld, fasste sich ein Herz und klopfte an das Fenster der ältesten Kaisertochter.
»Was ist, - wer ist's? Und was will er? « fragte das Mädchen, aus dem süßesten Schlaf geweckt.
» Ich bin's, Schwesterlein«, sprach der Kaisersohn, »ich, der kaiserliche Held, der seit drei Tagen in Liebe unter deinem Fenster steht. «
Die Kaisertochter näherte sich nicht einmal dem Fenster, sondern sprach mit verständiger Stimme:
»Kehre auf dem Weg heim, auf dem du gekommen. Blumen mögen vor dir sprießen und Dornen hinter dir zurückbleiben. «
Nach drei Tagen und drei Nächten klopfte der Kaisersohn wieder an das Fenster des Mädchens. Diesmal näherte sich die Kaisertochter dem Fenster und sprach mit sanfter Stimme:
»Ich habe dir gesagt, dass du auf dem Wege heimkehren mögest, auf dem du gekommen bist: Dornen mögen vor dir sprießen und Blumen hinter dir zurückbleiben. «
Noch einmal wartete der Kaisersohn drei Tage und drei Nächte unter dem Fenster des Mädchens. Im Morgengrauen des zehnten Tages, also nachdem dreimal drei Tage und dreimal drei Nächte vergangen waren, glättete er sich das Haar und klopfte zum dritten Mal ans Fenster.
»Was ist? Wer ist's? Und was wünscht er? « fragte die Kai¬sertochter, diesmal etwas härter als die anderen Male.
»Ich bin es, Schwesterlein«, sprach der Kaisersohn. »Seit dreimal drei Tagen stehe ich sehnsüchtig unter deinem Fenster: ich möchte dein Gesicht erblicken, dir in die Augen schauen und sehen, wie die Worte von deinen Lippen fließen! «
Die Kaisertochter öffnete das Fenster, sah ärgerlich den schönen Jüngling an und sprach dann mit unhörbarer Stimme:
»Ich sähe dir schon ins Gesicht, spräche schon ein Wort mit dir, aber gehe vorher zu meiner jüngeren Schwester und komme dann erst zu mir. «
»Ich werde meinen jüngeren Bruder senden«, sprach der Kaisersohn. »Gib mir aber einen Kuss, damit mir der Heimweg leichter werde. «
Und er hatte kaum ausgesprochen, als er sich auch schon einen Kuss von dem schönen Mädchen stahl.
»Möge dir kein zweiter zuteilwerden«, sagte die Kaiser¬tochter. »Kehre auf dem Weg heim, auf dem du gekommen: Blumen mögen vor dir sprießen und Blumen hinter dir zurückbleiben. «
Der Kaisersohn ging zu seinen Brüdern, sagte ihnen wie und was, und der zweite machte sich auf den Weg.
Nachdem der jüngere Kaisersohn neunmal neun Tage und neunmal neun Nächte unter dem Fenster des jüngeren Mädchens gestanden und zum neunten Mal an ihr Fenster geklopft hatte, öffnete sie dasselbe und sprach zu ihm mit liebevoller Stimme:
»Ich sähe dich schon an und spräche schon ein Wort mit dir, gehe aber vorher zu meiner jüngsten Schwester und komme dann erst zu mir. «
»Ich werde meinen jüngsten Bruder senden«, sprach der Kaisersohn. »Gib mir aber einen Kuss, damit ich schneller eilen kann. «
Und er hatte es kaum gesagt, als er sich auch schon einen Kuss stahl.
»Möge dir kein zweiter zuteilwerden«, sagte auch diese Maid. »Kehre auf dem Weg heim, auf dem du gekommen bist. Blumen mögen vor dir sprießen und Blumen hinter dir zurückbleiben! «
Der Kaisersohn ging zu seinen Brüdern, sagte ihnen das Wie und Was - und jetzt, zum dritten Mal, macht sich ein Kaisersohn auf den Weg - der jüngste Kaisersohn. Als er an das Schloss mit den drei Mädchen kam, stand Ileane am Fenster, und wie sie da stand, sah sie ihn und sprach mit munterer Stimme:
»Du schöner Held mit dem Kaisergesicht, wohin eilst du, dass du so feurig dein Pferd führst? «
Als der Kaisersohn Ileanes Gesicht erblickte und Ileanes Worte hörte, blieb er still stehen, schaute sie an und sagte dann mit mutiger Stimme:
»Ich eile zur Sonne, um ihr einen Strahl zu stehlen, ihn der Schwester anzuvertrauen und sie nach Hause zu bringen, wo sie meine Braut werden soll. Jetzt, Schwesterlein, halte ich unterwegs an, um dich anzuschauen, in die Strahlen deines Antlitzes zu blicken, dir ein Wort zu sagen und dir ein Wort zu stehlen! «
Ileane antwortete ihm verständig: »Wenn deine Art ist wie deine Rede, wenn deine Seele wie dein Gesicht stolz und schön und mild und licht, riefe ich dich wohl ins Haus, setzte dich an den Tisch zum Schmaus, würde dich speisen und tränken und dir Küsse schenken!«
Der Kaisersohn sprang vom Pferd, als er dieser Worte hörte, dann sagte er mit mutiger Stimme:
»Meine Art wird sein wie die Rede mein, das Herz so licht wie's Angesicht; lass mich ein ins Haus, setz' mich hin zum Schmaus, von früh bis Sternenschimmer soll es dich gereuen nimmer. «
Kaum hatte er das Wort ausgesprochen, da sprang er schon auf das Fensterbrett und durch das Fenster ins Zimmer und im Zimmer an den Tisch, und am Tisch gerade obenan nahm er Platz, wo der Kaiser gesessen hatte, als er Bräutigam gewesen war.
»Warte, warte! « sprach Ileane. » Laß mich erst sehen, ob du bist, was du sein solltest, und danach wollen wir das Wort reden und die Frucht brechen und die Liebe beginnen. Kannst du aus der Klette Rosen wachsen lassen? «
»Nein! « sagte der Kaisersohn.
»Dann ist die Distel deine Blume«, sagte die kluge Ileane. »Kannst du die Fledermaus mit süßer Stimme singen lassen? «
»Nein! « sagte der Kaisersohn.
»Dann ist dein Tag die Nacht! « sprach die kluge Ileane. » Kannst du Äpfel wachsen lassen auf Wolfskraut! «
»Das kann ich! « sagte der Kaisersohn.
» Dann soll das dein Obst sein! « sagte die schöne und schlaue Ileane. » Setz dich an den Tisch. «
Der Kaisersohn nahm am Tisch Platz. Ja, aber Ileane war die schlaue Ileane. Er hatte sich noch nicht ordentlich gesetzt, als, sieh an, er auch mit dem Stuhl und allem in den tiefen Keller fiel, in dem die Schätze des Kaisers versteckt waren.
Jetzt fing Ileane zu schreien an: »Zu Hilfe!« und als alle Knechte angestürzt kamen, um zu sehen, was und warum es geschehen war, sagte sie ihnen, dass sie ein Geräusch gehört habe und fürchte, dass jemand in den Keller eingedrungen sei, um des Kaisers Schätze zu stehlen. Die Knechte haben nicht viele Worte gemacht, sondern augenblicklich die Eisentür aufgebrochen und sind in den Keller gedrungen; da fanden sie dann den Kaisersohn und brachten ihn in Schande zum Richterspruch.
Ileane sprach das Urteil.
» Zwölf bestrafte Mädchen sollen ihn aus dem Land bringen, und wenn sie mit ihm bis an die Grenze gekommen, soll ihm jede einen Kuss geben. «
So war es befohlen, so geschah es auch. Als der Kaisersohn zu Hause bei seinen Brüdern anlangte, erzählte er ihnen den ganzen Vorfall, und nachdem er ihnen alles erzählt, zog ihnen ein großes Ärgernis ins Herz. Sie schickten also den beiden älteren Kaisertöchtern Nachricht, dass sie es so einrichten sollten, dass Ileane an den Hof der drei Kaiser¬söhne geschickt würde, damit sie sich an ihr rächen könnten wegen des Schimpfs, den sie ihnen angetan hätte. Als die älteste Tochter diese Nachricht von dem Kaisersohn bekam, stellte sie sich krank, rief Ileane zu sich ans Bett und sagte ihr, dass sie nur gesund werden könne, wenn Ileane ihr Essen von dem Herd der Kaisersöhne hole.
Ileane hätte ihren Schwestern alles zu Liebe getan, so nahm sie also das Krüglein und machte sich auf den Weg zu dem Hof der drei Kaisersöhne, um zu bitten, zu nehmen und zu bringen. Als sie an den Hof gelangte, stürzte Ileane atemlos in die kaiserliche Küche und sprach zum Oberkoch:
»Um Gottes willen, hörst du nicht, wie dich der Kaiser ruft? Mach und sieh zu, was los ist, warum und aus welchem Grund! «
Der Koch nahm seine Beine in die Hand und machte sich so schnell davon, wie auf kaiserlichen Befehl. Ileane blieb allein in der Küche, füllte sich das Krüglein mit Speisen, schüttete dann alle die kostbaren Speisen, die am Feuer standen, auf die Erde, und machte, dass sie davon kam.
Als die Kaisersöhne auch von diesem Schimpf erfuhren, ärgerten sie sich noch mehr als bisher, schickten den bei-den Schwestern von neuem Kunde und bereiteten sich wiederum auf ihre Rache vor. Kaum empfing die zweite Schwester die Nachricht der Helden, als sie sich krank stellte, Ileane an ihr Bett rief und ihr sagte, dass sie nur gesund werden könne, wenn sie von dem Wein koste, der sich in dem Keller der Kaisersöhne befände. Ileane hätte für ihre Schwester alles getan, so nahm sie das Krüglein und machte sich auf, um bald wiederzukommen.
Als sie am Hof anlangte, stürzte sie atemlos in den Keller und sprach zum Oberkellermeister:
»Um Gottes willen! Hörst du nicht, wie der Kaiser dich ruft? Mach und sieh zu, was los ist, wie und aus welchem Grund! « Der Kellermeister nahm seine Beine in die Hand und entfernte sich so schnell, wie auf kaiserlichen Befehl. Ileane füllte sich ihren Krug mit Wein, goss, was übrig blieb in den Keller und eilte dann nach Hause.
Die Kaisersöhne sandten zum dritten Male Kunde den zwei Kaisertöchtern, dass sie Ileane schicken möchten, wie sie sie noch nie geschickt hätten. Die Kaisertöchter stellten sich diesmal alle beide krank, riefen ihre Schwester zu sich und sagten ihr, dass sie nur gesund werden könnten, wenn Ileane ihnen zwei Apfel von denen der Kaisersöhne brächte.
»Meine lieben Schwestern«, sprach Ileane zu ihnen, »für euch gehe ich durch Wasser und durch Feuer, wieviel lieber zu den kaiserlichen Helden. « Sie nahm darauf das Krüglein und machte sich auf, um zu finden, zu nehmen, zu bringen und die lieben Schwestern vom Tod zu erretten.
Als der jüngste Kaisersohn erfahren hatte, dass Ileane zu ihm in den Garten kommen würde, um die goldenen Äpfel zu stehlen, befahl er, dass, falls jemand im Garten ein Wehklagen hören sollte, er sich nicht erdreisten dürfe hinzugehen, sondern den, der da wehklagen würde, solle man in Frieden wehklagen lassen. Darauf nahm er große Messer, Säbel und Speere und viele andere Dinge, versteckte sie in der Erde unter dem Apfelbaum mit den goldenen Äpfeln; versteckte sie so, dass nur die scharfen Spitzen aus der Erde herausragten. Nachdem er damit fertig war, verbarg er sich im Gebüsch und wartete auf Ileane. Ileane kam an das Gartentor, und als sie die großen Löwen sah, die dort Wache hielten, warf sie jedem von ihnen ein Stück Fleisch vor. Die Löwen fingen an, sich darum zu reißen, und Ileane ging zum Apfelbaum, trat vorsichtig zwischen den Messern, Säbeln, Speeren und den anderen Dingen hindurch und erklomm den Baum.
»Mög's dir gut bekommen, Schwesterlein«, sagte jetzt der Kaisersohn. »Ich freue mich, dich bei mir zu sehen. «
»Mein ist die Freude«, entgegnete Ileane, »denn ich habe einen schönen und mutigen kaiserlichen Helden zum Genossen. Komm, steig auf den Baum und hilf mir Apfel zu pflücken für meine lieben Schwestern, die todkrank sind und sie verlangt haben. «
Mehr wollte der Kaisersohn nicht, er hatte die Absicht, Ileane vom Baum in die Messer zu ziehen.
»Du bist gut, Ileane«, sprach er, »sei noch besser und reich' mir die Hand, um mir in den Baum zu helfen! «
»Bös' ist dein Gedanke«, dachte Ileane, »aber dir soll er zum Unheil werden! « Sie gab ihm die Hand, zog ihn am Stamm bis in die Zweige und ließ ihn dann zwischen die Messer, Säbel, Speere und andere solche Dinge fallen, die zu ihrem Verderb bereitet waren.
»Da hast du's«, sagte sie darauf, »damit du auch weißt, was du im Sinn hattest! «
Der Held mit der schwarzen Seele begann zu rufen und zu wehklagen, aber niemand kam, um ihm zu helfen, sondern man ließ ihn, nach seinem eigenen Befehl, in Frieden wehklagen, und er musste geduldig die schrecklichen Schmerzen ertragen.
Ileane nahm ihre Apfel, brachte sie nach Hause, gab sie ihren Schwestern, kehrte dann zum kaiserlichen Hof zurück und sagte den Knechten, sie sollten hingehen und ihren Herrn aus der großen Gefahr befreien.
Der Kaisersohn, so schmählich verhöhnt, schickte zu der berühmtesten Hexe im Land, damit sie zu ihm käme und ihm ein Heilmittel für seine Wunden gäbe. Ileane war aber vorher zu der Hexe gegangen, hatte ihr viel Geld gegeben, damit sie, Ileane, an ihrer Statt als Hexe hingehen dürfe. So kam also Ileane als Hexe an den Kaiserhof. Sie befahl dann, dass man die Haut eines Büffels nehme, sie drei Tage und drei Nächte in gesalzenes Essigsauer lege, sie dann herausziehe und den verwundeten Jüngling in sie wickle. Die Wunden brannten dem Kaisersohn darauf aber noch schlimmer und seine Schmerzen wurden noch unerträglicher. Als er nun sah, dass es gar schlecht um ihn stand, schickte er zu einem Priester, damit der ihm das Herz erleichtere, ehe er stürbe, und das Abendmahl gäbe. Aber Ileane war auch nicht faul! Sie ging zum Priester, gab ihm viel Geld und bewog ihn dazu, sie an seiner Statt dorthin zu schicken. So gelangte Ileane als Priester an den Kaiser¬hof.
Als Ileane an das Bett des Kaisersohnes trat, stand er an der Schwelle des Todes, es waren nur noch drei Atemzüge in ihm.
»Mein Sohn«, sprach die verpriesterte Ileane, »du hast mich zu dir gerufen, um mir deine Sünden zu beichten. Denke also an die Stunde des Todes und sage mir alles, was du auf dem Herzen hast. Bist du in Unfrieden mit jemandem? Ja oder Nein?«
»Mit niemandem«, sagte der Kaisersohn, »mit niemandem außer Ileane, der jüngsten Tochter des Nachbarkaisers. Und sie hasse ich, mit Sehnsucht und Liebe«, redete er weiter. » Wenn ich nicht sterben sollte, sondern gesund werde, gehe ich um sie beim Kaiser werben, und wenn ich sie in der ersten Nacht nicht umbringe, soll sie meine treue Frau nach dem Gesetz sein. « Ileane hörte diese Worte, sagte auch noch einiges, dann ging sie nach Hause. Hier verstand sie bald, warum ihre Schwestern weinten und wehklagten, denn sie hatten vernommen, dass der Kaiser von dem großen Kampf heimkehren sollte.
»Freude solltet ihr haben«, sagte ihnen Ileane, »wenn ihr hört, dass unser guter Vater gesund und heil nach Hause kommt. «
»Wir würden uns schon freuen«, entgegneten die Schwestern, »wenn unsere Blume nicht verwelkt, unser Apfel nicht verfault und unser Vögelchen nicht verstummt wäre; jetzt aber geht's uns ach und weh!«
Als Ileane solche Worte hörte, ging sie in ihr Zimmer, sah wie die Blume noch mit Tau benetzt, wie das Vögelchen hungrig war und der Apfel nur zu sagen schien: »so iss mich doch, Schwesterlein!«
Um also ihren lieben Schwestern zu helfen, gab sie der einen die Blume, der anderen das Vögelchen, für sich aber behielt sie nur den schönen Apfel. So erwarteten sie die Ankunft des Kaisers, der so scharf im Befehlen war.
Der Kaiser, kaum zu Hause angelangt, trat zu der ältesten Tochter und fragte sie nach der Blume, dem Vögelchen und dem Apfel. Sie zeigte ihm nur die Blume, und auch die war halb verwelkt. Der Kaiser sagte nichts, sondern ging zu seiner zweiten Tochter. Diese zeigte ihm nur das Vögelchen; und auch das war halb verkümmert. Der Kaiser sagte wiederum nichts, sondern ging wortlos zu seiner jüngsten Tochter, der klugen Ileane.
Als der Kaiser den Apfel auf Ileanes Schrank sah, hätte er ihn fast mit den Augen verspeist, so schön war er. »Wo hast du die Blume hingesteckt, und was hast du mit dem Vögelchen gemacht? « fragt er Ileane.
Ileane antwortete nichts, sondern eilte zu ihren Schwestern und brachte eine frische Blume und ein munteres Vögelchen mit.
»Mögest du gedeihen, mein Töchterchen«, sagte der Kaiser, »jetzt sehe ich, dass du mir die Treue bewahrt hast! « Von Ileane ging der Kaiser wieder zu seiner zweiten Tochter und darauf zu der ältesten.
Als er sie nach den drei Sachen, die er ihnen anvertraut hatte, fragte, holten sie schnell Vogel, Blume und Apfel von Ileane. Ja, aber der liebe Herrgott lässt keine Lügen durchgehen: bei ihnen verwelkte die Blume, war der Vogel traurig, und nur der Apfel blieb frisch, rotbackig und zum Reinbeißen.
Als der Kaiser dies sah, verstand er alles: er befahl darum, dass man die beiden älteren Mädchen bis an die Brust in die Erde eingrübe und sie so ließe, damit sie von der Härte einer kaiserlichen Strafe Kunde gäben. Ileane aber lobte er, küsste sie und führte mit ihr gute, kaiserliche Rede und sagte ihr: »Mögest du viel Glück haben, meine Tochter, denn du hast deine Pflichttreue erfüllt. «
Nachdem der jüngste Sohn des Nachbarkaisers genesen war, bestieg er sein Pferd und machte sich auf, Ileane zur Frau zu begehren. Der alte Kaiser, Ileanes Vater, sagte ihm in väterlicher Rede, nachdem er ihm kundgetan, mit welcher Absicht er gekommen sei:
»Mein Sohn und Held, geht und frage Ileane; was sie will, soll mit Gottes Hilfe geschehen. «
Ileane aber sagte kein Wort, sondern ließ es geschehen, dass der angeführte Held sie küsste. Da verstand der Kaiser die ganze Sache und sprach: »Meine lieben Kinder, ich merke, dass es so hat sein sollen, dass ihr Mann und Frau würdet; möge es also zu eurem Besten sein! «
Viel Zeit verging nicht, bis Ileane sich mit dem mutigen, schönen, heldenhaften und kaiserlichen Jüngling vermählte, und man richtete ihnen eine Hochzeit her, von der die Kunde durch sieben Länder ging. Aber Ileane hatte nicht vergessen, was der Kaisersohn Böses im Sinn trug; sie wusste, dass er für die erste Nacht nach der Vermählung etwas gegen sie im Schilde führte. Drum befahl sie, dass man ihr eine Puppe aus Zucker anfertige, gerade so groß wie sie selbst war, mit Gesicht, Augen, Lippen und der ganzen Gestalt Ileanes. Als aber die Puppe fertig war, versteckte sie dieselbe im Bett, in dem sie in jener Nacht schlafen sollte.
Am Abend, als die Verwandten und Freunde sich zur Ruhe gelegt und auch Ileane schlafen gegangen war, sprach der Kaisersohn also zu seiner Braut:
»Liebe Ileane, warte noch ein Weilchen, ich komme gleich. « Darauf ging er aus dem Zimmer.
Ileane besann sich nicht lange, sprang aus dem Bett, ließ die Zuckerpuppe an ihrer Statt und versteckte sich hinter einem Vorhang am Kopfende des Bettes.
Ileane hatte sich kaum ordentlich versteckt, als der Kaiser¬sohn wieder ins Zimmer kam mit einem spitzen Säbel in der Hand.
»Sage mir jetzt, du meine liebe Ileane«, sprach er, »hast du mich in den Keller geworfen? «
»Ja«, sagte Ileane hinter dem Vorhang. Der Kaisersohn hieb einmal mit dem Säbel über die Brust der Puppe.
»Du hast mich mit Spott und Hohn aus dem Land gejagt? « fragte er zum zweiten Mal.
»Ja«, sagte Ileane.
Der Kaisersohn hieb mit dem Säbel über ihr Gesicht.
»Du hast mir die Speisen verschüttet? « fragte der Kaiser¬sohn zum dritten Mal.
»Ja«, sagte Ileane.
Der Kaisersohn hieb mit dem Säbel von oben bis unten. »Du hast mir den Wein ausgegossen? « fragte der Kaiser¬sohn zum vierten Mal.
»Ja«, sagte Ileane.
Der Kaisersohn hieb mit dem Säbel einmal kreuz und quer. Ileane aber begann wie im Todeskampf schwer zu atmen.
»Du hast mich in die Messer geworfen? « fragte der Kaiser¬sohn zum fünften und letzten Mal.
»Ja«, sagte Ileane.
Der Kaisersohn stach nun seinen Säbel in Ileanes Herz, hieb nach allen Seiten kreuz und quer, aus allen Kräften, die er hatte, so dass ihm die Tränen wie Bäche herabrannen. Als die Morgenröte herannahte, begann er von ganzem Herzen zu weinen. Auf einmal sprang ihm ein Stück Zucker in den Mund.
»Ach, Ileane! Süß warst du im Leben, aber süß bist du auch im Tod«, sagte er und weinte noch heftiger.
» Wahrhaftig süß«, sagte Ileane, hinter dem Vorhang hervortretend, »aber hundert und tausend Mal süßer werde ich von jetzt ab sein. «
Der Kaisersohn war wie erstarrt vor Freude, als er Ileane heil und gesund sah; er nahm sie in seine Arme, und von jetzt ab lebten sie viele Jahre glücklich und beherrschten das Land in Friede und Freude.