Die Vision des Macconnglinney

Keltisches Märchen

Ein guter Herrscher und ein großer Krieger war Cathal, König von Munster. Aber irgendwie kam es dazu, daß ein wildes Tier, noch dazu ganz ohne Grund, in seinem Körper sich ausbreitete, so daß er ständigen Hunger verspürte, der nicht gestillt werden konnte. Schon am Morgen verschlang er von da an zum Frühstück ein halbes Schwein, eine Kuh und ein Kalb sowie drei Dutzend Weizenkuchen und trank dazu ein ganzes Faß frisches Bier aus. Und wenn er nun irgendwo ein Festmahl hielt, so bedeutete dies den Ruin für den ganzen Bezirk, weil ja von ihm die Nahrungsmittel für den König bereitgestellt werden mußten.

Zu dieser Zeit lebte in Armagh ein berühmter junger Gelehrter namens Anier Macconnglinney Der vernahm von der seltsamen Krankheit des Königs Cathal und von den Unmengen an Essen und Getränken an Weizenmehl, Bier und Met, die am Königshof verbraucht wurden. Und so machte er sich dorthin auf, um sein Glück zu suchen und den König von seinen Leiden zu kurieren. Am Morgen war er schon früh auf den Beinen, krempelte die Hemdsärmel hoch und hüllte sich in seinen faltenreichen Mantel. In seine rechte Hand nahm er einen knorrigen Stock, verabschiedete sich dann von seinen Freunden und ging fort.

Er reiste über Land, quer durch ganz Irland bis er an das Haus des Pichan kam Dort verweilte er, erzählte Geschichten, und allen bereitete er Freude. Aber Pichan sprach zu ihm: »Alle Freude, die du uns schenkst macht mich ganz tief in meinem Herzen doch nicht froh.« »Was hast du?« fragte Macconnglinney.

»Weißt du nicht, Mann, daß heute abend Cathal mit seinem ganzen Gefolge hier einfällt? Der Hofstaat macht Mühe, aber der König macht Kummer. Seine Freßgier ist nur mit einer der Plagen zu vergleichen, die Gott über das Land der Ägypter kommen ließ! Wenigstens dreierlei muß dann zur Stelle sein: ein Sack Hafer, ein Sack Äpfel und ein Sack Kuchen. All dies stopft der König als Vorspeise in sich hinein, der Unersättliche.« »Wie wäre es«, sprach darauf Macconnglinney, »wenn ich den Herrscher von seiner Freßsucht heilte!«

»Das ganze Land wird dir die Füße küssen, aber davon wird keiner reich. Also besser, ich verspreche dir je ein weißes Schaf aus jedem Stall zwischen Carn und Cork.« »Gut, ich bin einverstanden«, antwortete Macconnglinney.

Cathal, der Könige kam mit seinem Hofstaat und mit einem Trupp Berittener. Kaum hatte sich der König niedergelassen und auch nur die Schnürsenkel gelöst, da fing er auch schon an, jeden in Reichweite befindlichen Apfel in sich hineinzustopfen. Pichan und die Männer blick­ten traurig und sorgenvoll drein, weil sie Zweifel hegten ob Macconnglinney es auch gelänge, was er da versprochen hatte. Der aber erhob sich, griff nach einem Wetzstein, stopfte sich diesen in den Mund und fing an, darauf wie wild herumzukauen.

»Bist du verrückte mein Junge, oder was ist mit dir? « fragte Cathal ihn als er das bemerkte. »Ach, nichts von Bedeutung«, antwortete Macconnglinney, »es schmerzt mich, Euch allein essen zu sehen.«

Da schämte sich der König und warf ihm einen Apfel zu — und man sagt, es seien zuvor drei Halbjahre vergangen, daß er sich das letzte Mal zu einer solchen Wohltat habe hinreißen lassen! »Erlaubt mir, daß ich mir etwas wünsche« bat Macconnglinney.

»Genehmigt bei meiner Ehre«, sagte der König. »Dann wünsche ich mir, daß Ihr eine Nacht mit mir fastet.« Zwar war dieser Gedanke allein schon furchtbar für den König, aber er hatte den Wunsch ja nun einmal bei seiner Ehre zugestanden, und wo kämen wir hin, wenn auf ein königliches Wort kein Verlaß mehr wäre!

Am Morgen bestellte Macconnglinney saftigen Schinken, zartes Roastbeef, Honig in einer Wabe und englisches Salz, das man in einem schön polierten Behälter aus Silber hereintrug. Im Kamin brannte ein Feuer: ohne Rauch, ohne Gestank, ohne Funken. Macconnglinney spießte Fleischstückchen auf und schickte sich an, sie über dem Feuer zu rösten. Dann rief er: »Seile und Schnüre her — und starke Männer!« Die Stricke wurden gebracht, und die stärksten Krieger kamen. Er gab ihnen Anweisung, den König zu ergreifen und so festzubinden, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Dann setzte er sich vor ihn hin, nahm das Messer aus seinem Gürtel, schnitt ein Stückchen von dem gerösteten Fleisch ab, tauchte es in den Honig und führte es vor dem Mund des Königs spazieren.

Als der König sah, daß er nichts bekommen und vierundzwanzig Stunden würde fasten müssen, schrie und schimpfte er. Dann befahl er, man sollte den Macconnglinney töten. Aber das wagte keiner.

»Nur keine Aufregung«, sagte der, »es ist nicht der König, der da befiehlt. Es ist das gesetzlose, wilde Tier, das da aus ihm spricht.« »Herr König«, fuhr Macconnglinney fort, »letzte Nacht hatte ich eine Vision. Davon muß ich Euch erzählen.« Und während er davon berichtete, führte er einen Fleischbrocken nach dem anderen an dem Mund und der Nase des Königs vorbei und aß sie am Ende selbst auf. Dies aber war es, was er sang, wenn er nicht gerade zu kauen hatte:

»Einen See aus frischer Milch sah ich
In der Mitte einer lieblichen Ebene.
Darinnen lag ein schönes Haus auf einer Insel,
Das Dach mit Butter gedeckt,
Puddings, frisch gekocht,
Dienten als Dachrost.
Zwei weiche Türpfosten aus Schlagsahne,
Als Betten herrliche Schinken,
Die Zaunpfähle - Käse,
Würste die Balken.
Fürwahr, ein reich gefülltes Haus dies war,
Mit hinreichend Vorrat für den Hunger des größten Essers.« »Als ich nun diese Vision hatte«, erzählte Macconnglinney, »hörte ich, wie jemand mir ins Ohr flüsterte: Geh keinen Schritt weiter, Macconnglinney. Du weißt doch, was das Essen betrifft, so verträgst du nicht allzu viel!

>Was ist da zu tun?< fragte ich, denn die Vision hatte mich recht freßgierig werden lassen. Da forderte die Stimme mich auf, weiterzugehen, bis ich zu der Einsiedelei des Zauberdoktors kommen würde. Dort bekäme ich dann schon den richtigen Hunger, den man für eine solche Fülle leckerer Speisen benötigte. Im Hafen entdeckte ich ein hübsches Boot aus Rindfleisch. Das Heck bestand aus Fett, der Bug aus Butter, die Ruder aus Streifen von Wildfleisch. Ich ruderte hin über die Weite des Frischen Milchsees, durch die Strömung von Brühe, an den Flußmündungen aus Pastete vorbei, über die Buttermilchstrudel, vorüber an den Inseln aus Käse. Dann umschiffte ich mit aller Vorsicht die Vorgebirge aus Quark, bis ich zu Füßen des Buttergebirges wieder festen Boden be­trat und im Land der Früh-, Viel- und Allesfresser vor der Einsiedelei des Zauberdoktors stand. Schon merkwürdig wunderbar sah es dort aus. Umgeben war sie von siebenhundert Stapeln, aufgesetzt aus gut abgehangenen Schinken. Statt Dornen auf jeder Zaunspitze konnte ich leuchtendes Fett erblicken. Das Tor selbst bestand aus Sahne, die Riegel waren aus Dauerwurst.

Auf dem Hof begegnete ich dem Türsteher Speckbursch, einem Mann aus dem Butterklan, in weichen Sandalen aus altem Frühstücksspeck, mit Beinkleidern aus Kochfleisch, einem Hemd aus Roastbeef, den Gürtel aus Lachshaut, dem Helm aus Grießbrei, so saß er auf einer Stute aus Quark. Die vier Hufe der Stute waren aus Haferbrot, ihre Ohren aus Quark, und sie verfügte im Kopf über Augen aus Honig. In der Hand hielt er eine Peitsche. Die Schnüre davon waren vierundzwanzig feine weiße Puddings, und allein jeder saftige Tropfen, der von einem der Puddings herabfiel, hätte einen gewöhnlichen Sterblichen satt werden lassen. Als ich weiterging, stieß ich auf den Zauberdoktor höchstpersönlich. Statt in Handschuhen hatte er seine Hände in Rumpsteaks verborgen, denn er war gerade dabei, in seinem Haus, an dessen Wänden Kutteln hingen, Ordnung zu schaffen. In der Küche traf ich auf den Sohn des Zauberdoktors. Er saß dort mit einem Fischhaken aus Fett in der Hand, der hing an einer Schnur aus Rindermark. Damit angelte der Bursche in einem Teich voll Wein. Mal landete er einen saftigen Schinken, dann wiederum einen zarten Rehrücken. Schließlich aber stürzte er vor lauter Gier nach noch üppigeren Fängen in den Teich und ertrank. Ich trat ins Nebenzimmer. Dort stand ein Sofa. Aber wie sollte ich wissen, daß es ganz aus Butter bestand, als ich mich hinsetzte! So versank ich in dem goldgelben Brei bis zu meinen Haarspitzen. Acht Männer hatten alle Mühe, mich da wieder herauszuhieven.

Endlich führte man mich vor den Zauberdoktor. Der fragte mich, was mir fehle. Ach, andauernd wünsche ich mir, daß ein großes Stück von jeder Fleischsorte, die es auf der Welt gibt, vor mir liege, damit ich endlich einmal den Hunger stillen kann, der mich ständig plagt.

Ja, ja, meinte der Doktor, das ist eine schlimme Krankheit. Aber ich will dir ein Rezept verraten, das wird dich und jeden, dem es genauso geht wie dir, von der Freßsucht befreien. Nun, was könnt ihr mir raten ? fragte ich ungeduldig.

Wenn du heute abend heimkommst, dann wärme dich erst einmal vor einem rotglühenden Eichenfeuer so richtig gut durch. Mach dann dreimal neun Brocken, einen jeden so groß wie ein Fasanenei. In jedem Brocken soll ein Anteil Mehl aus jeder Getreideart sein: Weizen und Hafer, Roggen und Gerste. Dazu gibst du etwas Soße, einen ganz winzigen Tropfen nur, soviel eben, wie zwanzig Männer sich auftun, die nicht unter dieser Krankheit leiden. Und bevor du nun immer einen Brocken ißt, trinkst du jeweils einen guten Schluck dicksahniger Milch. Und hast du den Brocken heruntergeschlungen, so vergiß bitte nicht, noch einmal Sahne nachzuschütten. Wenn dies geschehen ist, dann wirst du so sicher wie das Amen in der Kirche von deiner Freßsucht geheilt sein. Und nun eile, fuhr er fort, im Namen des fetten Käses, und möge der saftige Schinkenspeck deinen Weg glätten. Die gelbkremige Sahne sei mit dir, ein Kessel voller Kartoffelsuppe erleuchte dein Angesicht usw.« Nachdem Macconnglinney seine Vision wiedergegeben hatte — mit der Aufzählung all der herrlichen Fleischsorten und der Beschreibung des Duftes der in Honig getauchten Brocken, die am Spieße steckten —, kam das gesetzlose wilde Tier, das im König saß, aus dessen Bauch heraufgestiegen und setzte sich lauernd auf dessen Lippe. Da bewegte Macconnglinney seine Hand, in der er die Spieße hielt, gegen den Mund des Königs hin, wo das gesetzlose, wilde Tier hockte und begierig war, davon zu fressen. Aber Macconnglinney paßte auf, daß er mit den Spießen nicht weiter als eine Armlänge an die Lippen des Königs herankam. Das gesetzlose wilde Tier sprang aus dem Mund hervor und verbiß sich in den Spieß.

Was machte nun Macconnglinney? Der legte jenen Spieß, nachdem das Tier geschnappt hatte und an dem es nun hing, in die Glut des Herdfeuers und stellte den Kessel des königlichen Haushaltes darauf. So hielt er das gesetzlose, wilde Tier gefangen. Dann räumte man das ganze Haus leer, bis sich schließlich außer dem Kessel, dem Spieß und dem Feuer nicht einmal das Bein einer Küchenschabe darin befand, und legte an allen vier Ecken Feuer. Als da nur noch ein rot zum Himmel lodernder Turm aus Flammen war, flüchtete das gesetzlose, wilde Tier auf die Dachbalken, und als es schließlich dort auch nicht mehr auszuhalten war, sprang es auf in die Luft: Und hernach ward es nimmermehr auf Erden gesehen, wohl aber in der Hölle.

Dem König aber wurde ein Bett mit Federkissen hergerichtet, und Spielleute und Sänger, Barden und Gaukler unterhielten ihn von Mittag an bis um Mitternacht. Dann verfiel er in einen tiefen, wohligen Schlaf. Als er daraus wieder erwachte, war er endgültig geheilt. Zum Dank schenkte er Macconnglinney eine Kuh aus jedem Bauern­hof und ein Schaf aus jedem Gehöft in Munster. Außerdem bestellte er ihn zum Vorschneider und Speisenkoster an der königlichen Tafel.

Auf diese Weise wurde Cathal, König von Munster, von seiner Freßsucht geheilt, und Macconnglinney erwarb sich dabei großen Ruhm und Ehre.