Die vorwitzige Finna
Märchen aus Island
Es war einmal ein Mann, der hieß Trandur und war Gesetzsprecher. Seine Frau war schon gestorben, und er selbst war auch schon alt geworden. Er war ein sehr kluger Mann und hatte zwei Kinder, einen Sohn namens Sigurd und eine Tochter, die Finna hieß. Finna war sehr gelehrig, und man sagte unter den Leuten, sie wisse mehr als ihr Vaterunser.
Als ihr Vater einmal fortreiste, sagte sie zu ihm: »Ich vermute, Vater, dass man dich auf deiner langen Reise um meine Hand bitten wird. Versprich' sie bitte niemandem, es sei denn, es hängt dein Leben davon ab. « Er versprach es und reiste ab.
Es hielten viele angesehene Männer um Finnas Hand an, Trandur wies alle ab.
Nach Beendigung seiner Geschäfte machte er sich wieder auf den Heimweg. Eines Abends, als er ganz allein seinen Knechten vorausritt, begegnete ihm ein Mann auf einem dunkelbraunen Pferd, der ein sehr wildes Aussehen hatte. Der Fremde stieg ab, griff in die Zügel von Trandurs Pferd und sagte: »Sei gegrüßt, Trandur! «
Trandur erwiderte seinen Gruß und fragte ihn um seinen Namen.
»Ich heiße Geir«, sagte der Mann, »ich will um Finna, deine Tochter, werben. «
Trandur entgegnete: »Ich kann sie dir nicht geben, sie will selbst über ihr Schicksal bestimmen. «
Da zog Geir das Schwert und setzte es Trandur auf die Brust. »Wähle«, sagte er, »entweder du stirbst, oder ich bekomme Finna zur Frau. «
Trandur sah keinen anderen Ausweg, als ihm die Tochter zu versprechen. »Komm' nach einem halben Monat und hole sie ab«, sagte er. Und Geir zog seiner Wege. Finna erwartete den Vater vor dem Hause. Sie begrüßte ihn: »Ist es so, wie ich es ahne, dass du mich verheiratest hast? «
»Es fällt mir schwer, liebe Tochter«, erwiderte er, »aber so ist es. Mein Leben stand auf dem Spiel. «
»Dann möge es geschehen«, sagte sie, »aber ich spüre, es wird mir daraus keine Freude erwachsen. «
Zur festgesetzten Zeit kam Geir, seine Frau zu holen. Es wurde ihm ein freundlicher, aber gedämpfter Empfang bereitet. Er bat Finna um rasche Abreise. So verließen sie am nächsten Morgen das elterliche Haus. Nur ihr Bruder Sigurd begleitete sie.
Sie ritten fort und kamen zu einer Gebirgsweide, auf der grasten Rinder.
»Wem gehört diese Weide und wem gehören diese Rinder? « fragte Finna Geir.
Er antwortete: »Niemand anderem als mir und dir. « Am zweiten Tag kamen sie zu einer anderen Weide, auf der grasten lauter Pferde. »Wem gehören diese Pferde?« fragte Finna Geir.
»Niemandem als mir und dir«, entgegnete wieder Geir. Sie ritten weiter. Am Abend kamen sie zu einem großen Gut. Hier stieg Geir vom Pferd und bat Finna, ihm zu folgen, denn hier sei sein Heim.
Finna war gut aufgenommen und übernahm die gesamte Hauswirtschaft. Geir war nicht sonderlich freundlich zu ihr, doch nahm sie sich sein Verhalten nicht besonders zu Herzen, zumal Sigurd ebenfalls gut behandelt wurde. Am Weihnachtsabend wollte Finna ihrem Mann den Kopf waschen lassen; man suchte ihn überall, konnte ihn aber nirgends auftreiben. Finna fragte Geirs Pflegemutter, die darauf in Weinen ausbrach und meinte, Geir sei Weihnachten noch niemals zu Hause gewesen. »Sucht nicht nach ihm«, antwortete die verständige Finna, »wenn seine Zeit gekommen ist, wird er von selbst zurückkommen. «
Nach dem Essen, als alle schlafen gegangen waren, nahm F:r.na Sigurd an der Hand, und sie ruderten zu einer Insel, weit draußen auf dem See. Sie ging an Land und bat Sigurd, beim Boot zu warten. Dann ging sie so lange landeinwärts, bis sie zu einem kleinen; wohlgebauten Haus kam, dessen Tür offenstand. Sie ging hinein, es brannte ein Licht, und ein schön bereitetes Bett stand in der Stube. Darin lag Geir, und in seinen Armen lag eine nackte Frau. Finna setzte sich neben das Bett und sang ein leises, wehmütiges Lied. Nach einer Weile stand sie wortlos auf, ging und fuhr mit ihrem Bruder zurück. Sie nahm ihm das Versprechen ab, niemandem etwas von der Fahrt zu erzählen, und so erfuhr niemand etwas davon.
Als Weihnachten vorüber war, stand Finna eines Morgens zeitig auf und ging in die Kammer, in der Geir und sie zu schlafen pflegten, wenn er daheim war. Geir ging in der Kammer auf und ab und starrte auf ein Kind, das im Bett lag.
»Wem gehört das Kind? « fragte Geir schroff. »Es gehört niemandem als dir und mir«, erwiderte Finna und übergab das Kind der Pflegemutter, damit sie es aufziehe.
Ein Jahr verstrich. Dann geschah zu Weihnachten dasselbe wie zuvor. Diesmal saß Finna auf einem verzierten Schemel vor dem Bett, in dem Geir und die Frau lag. Und als das dritte Weihnachten kam und Geir verschwand, bat Finna ihren Bruder, mit auf die Insel zu gehen. »Aber du darfst kein einziges Wort sprechen«, sagte sie. Vor dem Haus zögerte Finna, dann hieß Finna den Bruder draußen zu warten. Sie ging hinein, setzte sich auf den Rand des Bettes und sang:
»Verlassen sitz' ich hier am Rand,
das Glück der Freude von mir schwand,
geraubt hat mir's der kluge Mann,
dass ich mich nicht mehr freuen kann.
Die andre Frau den Mann mir nahm -
ganz unverhofft das Unglück kam. «
Da erhob sich Geir und sagte: »Es wird nicht länger so sein. «
Die Frau im Bett fiel bei seinen Worten in Ohnmacht. Finna holte Wein und beträufelte die Lippen der Besinnungslosen, da erwachte sie und war schöner als zuvor. Da sagte Geir: »Nun hast du mich von einem schweren Fluch erlöst, denn es war das letzte Jahr, in dem meine Befreiung möglich war. Mein Vater war König und herrschte über Gardariki. Als meine Mutter gestorben war, heiratete er eine Unbekannte. Nachdem sie kurze Zeit zusammen gelebt hatten, tötete sie ihn mit Gift. Da ich und meine Schwester Ingebjörg ihr nicht Gehorsam leisten wollten, verfluchte sie uns, gemeinsam drei Kinder zu zeugen. Wenn du, die alles mitangesehen und geschwiegen hast, uns nicht erlöst hättest, wäre Ingebjörg zu einem ungezähmten Fohlen und ich zu einer Schlange verzaubert worden. So hätten wir auf ewig leben müssen. «
Freudig fuhren sie alle an Land zurück. Es wurde ein großes Fest gefeiert, Sigurd und Ingebjörg wurden ein glückliches Paar. Sigurd zog nach Gardariki und unterwarf es sich ganz.
Geirs Stiefmutter dagegen wurde ergriffen und zwischen zwei Pferde gebunden, die sie in zwei Stücke auseinanderrissen. Finna und Geir lebten glücklich miteinander, und Geir wurde Gesetzsprecher nach Trandur.