Die Grünen Kinder

Märchen aus England

An einem Sommertag vor langer Zeit machten die Leute auf den Wiesen, nicht weit von Bury St. Edmunds, Heu. Es war sehr heiß. Die Sonne brannte vom Himmel herab, und kein Windhauch war zu verspüren. Die Leute waren froh, als es Mittag wurde und sie eine Pause machen konnten. Sie setzten sich mit ihrem Essen unter einen Baum nicht weit von jenen alten Mulden im Boden, die Wolfsgruben genannt werden und nach denen das Dorf seinen Namen hat. Mehrere dieser Mulden gehen in Höhlen über, die in den Berg hineinführen, aber nie hat sich jemand dort hineingewagt, denn die Wolfsgruben gelten als seltsam und gefährlich. Die Schnitter ruhten sich also etwas aus, ehe sie mit der Arbeit wieder anfingen, als plötzlich einer von ihnen ausrief: »Wer kommt denn da aus den Höhlen? «
Die Leute sahen zwei kleine Gestalten am Ausgang einer der Höhlen und nahe genug, dass jede Täuschung ausgeschlossen schien. Keiner wollte hingehen, denn jeder hatte Angst, was sich wohl in den Wolfsgruben finden würde. Schließlich sagte ein Junge, der Dickon hieß, er wolle es schon wagen. Wie die meisten Jungen war er neugierig und suchte Abenteuer. Er ging über das Feld und kroch in die Höhlung. Vor Schreck erstarrt blieb er stehen. Da waren zwei kleine Leute … Kinder vielleicht, aber es waren gewiss keine gewöhnlichen Kinder, denn ihre Gesichter, ihre Hände und ihre nackten Füße waren grün.
Nun bekam es Dickon doch mit der Angst, denn vielleicht gehörten sie zum Guten Volk, zu den Feen, und jeder weiß, dass Feen sehr böse werden können, wenn man sie stört. Der Junge zitterte, wandte sich um und lief zurück. Dann aber fasste er Mut. Immerhin waren diese Geschöpfe sehr klein, und er konnte sehen, dass auch sie Angst hatten. Es schien ihnen schwerzufallen, denn sie hielten die Hände über die Augen, um die Sonnenstrahlen abzuschirmen. »Wer seid ihr? «, fragte er, »seid ihr Feen? «
Das Mädchen – es war das kleinere von beiden Kindern – antwortete mit einem rasch dahingesprochenen Satz, aber zu seiner Verwunderung konnte Dickon auch nicht ein Wort von dem verstehen, was sie sagte. Der Junge klammerte sich an das Mädchen, verbarg sein Gesicht und schrie etwas in dieser seltsamen Sprache. All das machte Dickon noch ängstlicher. Er wandte sich um und rannte zu den Schnittern zurück. Bald waren die seltsamen Kinder von Menschen umstellt, denn Kinder schienen sie immerhin zu sein, trotz der grünen Farbe. Die Leute betasteten ihre seltsam geschnittenen Kleider und strichen mit der Hand über ihre Haut, um zu spüren, ob sie sich genauso anfühlte, wie ihre eigene. Schließlich nahm einer der Männer das Mädchen bei der Hand und führte sie in das nahegelegene Dorf. Der Junge klammerte sich schluchzend an sie.
Vorerst brachte man die Kinder zu Dickons Mutter. Sie war eine freundliche Frau. Sie versuchte, die Kinder zu beruhigen und bot ihnen zur Nahrung von dem wenigen an, dass die Familie hatte. Aber die Kinder wollten nichts anrühren und rannten immer von den Speisen fort, als schmeckten sie übel oder als seien sie verdorben.
Es wurde beschlossen, die Grünen Kinder zu dem Gutsherrn, Sir Richard de Calne, zu bringen. Als sie auf die Straße traten, umtanzten die Dorfkinder sie, fassten sie an und zerrten an ihren Kleidern. Einige wurden sogar noch frecher. Sie warfen Steine und riefen: »Hexenbrut!« Ein Junge lief neben ihnen her und machte den Singsang nach, in dem das Mädchen redete. Ihr kleiner Bruder schrie voller Angst auf, und Dickon vertrieb die Peiniger. Er fühlte sich für die Grünen Kinder verantwortlich, weil er sie als erster entdeckt hatte.
Als man zum Herrenhaus kam, tat Sir Richard sein Bestes, um mehr über die Kinder herauszufinden. Er befragte sie wieder und wieder, versuchte es auch mit der Zeichensprache, aber niemand verstand, was die Kinder sagten. Auch konnte man nicht die rechte Nahrung für' die Kinder beschaffen. Sie waren vor Hunger schon ganz schwach und matt. Eines Tages kam Dickon in das Herrenhaus und brachte einen Korb voller Bohnen. Zufällig saßen die Kinder im Hof, und als sie die Bohnen sahen, jubelten sie vor Vergnügen und nahmen sich gleich eine Handvoll. Sie kauten an den Bohnen herum, aber dann schienen sie ihnen doch nicht so recht zu schmecken. »Schaut her«, sagte Dickon und brach eine Bohne auf und zeigte ihnen die dicken Bohnenkerne. Sofort begannen die Kinder begierig davon zu essen, und von diesem Tag an fiel es nicht schwer, ihren Hunger zu stillen. Das Mädchen wurde kräftiger, aber der Junge schien von Tag zu Tag bleicher und dünner zu werden.
Manchmal bat er die Schwester, mit zu den Wolfsgruben zu kommen, so als sei dort sein Zuhause.
Aber das Mädchen vermochte sich nicht mehr daran zu erinnern, aus welcher Höhle sie gekommen waren, und im Inneren der Höhle gab es Gänge, von denen keiner zu sagen wusste, wohin sie führten.
Die Dorfleute ließen die Kinder nicht aus den Augen, weil sie fürchteten, sie könnten ihnen entwischen. Sie meinten nämlich, die Kinder brächten ihnen Glück. An einem kalten Wintertag starb der Junge. Die Schwester weinte und fühlte sich einsam. Nur Dickon vermochte ein Lächeln auf ihr Gesicht zu locken. Er versuchte, ihr seine Sprache beizubringen, und nach einiger Zeit konnte sie sich recht und schlecht mit Dickon verständigen. Er überredete sie auch, andere Nahrungsmittel zu probieren, damit sie stärker werde. Eines Tages sah er voller Erstaunen, dass die grüne Farbe verblasste und sie fast wie andere Mädchen auch aussah. Schließlich redete sie die Sprache der Menschen so gut, dass sie ihm erzählen konnte, was er schon solange hatte wissen wollen: die Geschichte, wie ihr Bruder und sie in die Wolfsgruben gekommen waren.
Sie sagte, sie stamme aus einem Land, in dem alles grün sei. Menschen wie Dickon würde man dort für seltsam und hässlich ansehen. In ihrem Land, so erzählte sie weiter, scheine die Sonne nie. Immer herrsche eine Art von Zwielicht. Eines Tages, als sie und ihr Bruder bei einer Herde Schafe auf dem Feld gewesen seien, hätten sie einen wunderbaren Ton gehört, das Läuten von Glocken. Sie seien dem Ton nachgegangen, bis in die Höhle hinein, und dort hätten sie sich verirrt, bis sie schließlich im grellen Sonnenlicht standen. Als sie Dickon und all die anderen Leute mit der seltsamen Hautfarbe vor sich gesehen und ihre eigenartige Sprache gehört hätten, wären sie vor Angst fast verrückt geworden. In ihrem Land seien die Leute sanfter und ruhiger. »Aber wo ist dieses Land? «, fragte Dickon, »warum gibt es dort keine Sonne, und warum sind alle Leute dort grün? « Das konnte ihm das Mädchen auch nicht erklären.
Zeit verging. Das Mädchen wuchs auf wie andere Mädchen, und die Leute vergaßen, dass sie eines der Grünen Kinder gewesen war. Es schien ganz selbstverständlich, dass Dickon und sie eines Tages heirateten.
Keiner hat seither noch einmal Grüne Kinder gesehen, noch hat jemand das Land mit dem Zwielicht gefunden, aus dem sie gekommen waren.