Die Schachpartie im Gebirge

Vietnamesisches Märchen

Ein Tiger hatte den Vater von Hieu dem Heiligen, der Holzhauer war, fortgeschleppt.
Seit dieser Zeit half der Jüngling seiner Mutter, den Lebens-unterhalt zu verdienen, und das war bei den zahlreichen Brüdern und Schwestern nicht leicht. Er war kräftig und mutig und schlug beinahe so viel Holz wie ein Mann. Da die Kräfte seiner Mutter sich schon früh verbraucht hatten, war sie glücklich, sich nicht allzu sehr sorgen zu müssen. Trotzdem nahm sie einige Näharbeiten an, die man ihr anvertraute; doch war sie nicht mehr gezwungen, sich bei anderen zu mühsamer Arbeit zu verdingen.
Eines Winterabends kehrte Hieu der Heilige schwer beladen heim. Da sah er am Rande des Pfades eine reglose menschliche Gestalt liegen. Er setzte seine Bürde ab und beugte sich hinab. Es war ein alter Mann. Er atmete noch, aber nur ganz schwach. Hieu der Heilige nahm ihn auf seinen Rücken und trug ihn in seine Strohhütte. Seine Mutter und er pflegten den Kranken, ohne sich selbst zu schonen.
Sie hatten ihre Freude, als sie sahen, wie er wieder aufblühte. Sie behielten ihn bei sich, um seine vollständige Genesung abzuwarten. Ohne je an irgendeine Bezahlung zu denken, opferten sie sich für ihn auf.
Eines Abends sagte der Alte zu Hieu dem Heiligen: »Bevor ich Euch verlasse, will ich Euch meine Dankbarkeit bezeugen. Ihr seid dieses Jahr ins Buch der Toten eingeschrieben. Ich werde Euch aber ein Mittel verraten, das Euch retten kann. Achtet gut auf das, was ich Euch sage: Am ersten Tag des Monats brecht früh auf. Nehmt eine Kalebasse Wein und zwei Tassen mit. Wenn Ihr den Wald durchquert habt, geht auf die Sonne zu, bis Ihr einen tiefblauen See erreicht. Dann steigt in das Gebirge, und geht links an einem Wasserfall vorbei. Nicht weit vom Gipfel entfernt werdet Ihr zwei Alte beim Schachspielen sehen. Macht keinen Lärm, aber haltet Euch in ihrer Nähe. Wenn sie zu trinken verlangen, gießt ihnen von Eurem Wein ein. Wartet, bis sie ihre Partie beendet haben, dann könnt Ihr Eure Bitte an sie richten. « Am nächsten Morgen bemerkte Hieu der Heilige, dass sein Gast verschwunden war.
Am ersten Tag des folgenden Monats brach Hieu schon lange vor Sonnenaufgang auf. Seine Tassen waren gut verstaut, und die Kalebasse hing über seinem Rücken.
Als er den Wald durchquert hatte, wanderte er auf einem
Weg, den er nicht kannte. Die Sonne war schon lange auf-gegangen, als er den See erreichte, dessen Wasser tiefblau leuchtete. Im Walde, der den Abhang des Gebirges bedeckte, hörte er den Gesang unbekannter Vögel. Er ertönte in einer seltsam lebendigen und reinen Melodie. Hieu hielt an, um ihm zu lauschen. In den Pausen des Vogelgesanges hörte er das Brausen eines entfernten Wasserfalles. Er wandte sich in diese Richtung und ging links am Wasserfall vorbei. Bald hatte er den Waldesrand erreicht. Ganz in Licht gebadet lag vor ihm eine wunderschöne Berglandschaft. Auf dem schönsten Platz saßen zwei Greise unter einem großen Kiefernbaum. Sie hockten mit gekreuzten Beinen auf einem glatten Steintisch. Hieu der Heilige näherte sich ohne Lärm und erkannte deutlich ihre schönen Gesichter, die trotz vieler Runzeln vor Frische glänzten. Sie spielten still, überlegten reiflich ihre Züge, und jedesmalig, wenn sie sich ein wenig bückten, um einen Bauern vorzuziehen, streifte die Spitze ihres langen weißen Bartes die roten Linien des Schachspiels, das auf den Stein gezeichnet war. Neben jedem der Spieler bemerkte Hieu ein dickes, geschlossenes Buch. Unbeweglich wartete er eine Weile. Als spräche er zu seinem Diener, verlangte einer der Alten, ohne die Augen vom Schachspiel zu nehmen: »Etwas zu trinken! « Hieu der Heilige beeilte sich, die Tassen zu füllen und stellte sie in Reichweite ihrer Hände. Sie leerten die Tassen, waren aber noch immer ganz ins Spiel versunken. Dreimal wiederholte sich der Vorgang. Als die Partie zu Ende war, erhob der Sieger zuerst die Augen. Im gleichen Augenblick beugte Hieu der Heilige die Stirn zur Erde und sagte:
»Wohltätige Geister, verschont mich und habt Erbarmen mit meiner Mutter. Sie ist alt und schwach. Gewährt mir noch einige Jahre, bis meine Brüder groß und stark sind und mich bei ihr ersetzen können. «
Der eine der Alten neigte sich zum anderen. Dieser öffnete sein Buch, nahm einen Pinsel und änderte eine Zeile. Dann sagte er zu Hieu dem Heiligen:
»Es ist dir gelungen, dass wir von deinem Wein getrunken haben. Was aber mehr wiegt: Du bist ein guter Sohn und hast einen Menschen gerettet. Du sollst hundert Jahre alt werden. «
Hieu der Heilige kniete noch immer. Er fühlte einen Hauch über seinem Kopf. Als er die Augen ein wenig hob, sah er, dass der Stein zu beiden Seiten des Schachspiels leer war. So konnte er den Geistern nicht einmal danken.
Eilig machte er sich auf den Heimweg. Sein Herz floss über vor Freude; doch wagte er nicht, jemandem seine Geschichte zu erzählen, selbst seiner Mutter nicht.
Später kam er wieder einmal ins Gebirge. Er fand den See wieder, dann den Wald mit dem Wasserfall. Aber das Wasser des Sees war nicht mehr blau, die Waldesluft hallte nicht vom Gesang der Vögel wider. Nur der Wasserfall grollte in der Stille.
In der Ferne warf die gleiche Kiefer ihren Schatten über einen rauen Felsen. Vergeblich suchte Hieu darauf die roten Linien des Schachspiels der Geister.