Springendes Wasser, sprechender Vogel, singender Baum

Norddeutsches Märchen

Es waren einmal drei Hirtentöchter, davon waren zwei klug und die Dritte war einfältig. Die Erste von ihnen sagte einmal, als sie ihre Herde auf die Weide trieben und unter dem Schloss vorbeikamen: »Wenn mich der König zur Frau nähme, ich wollte allen Soldaten neue Hemden geben.« Die zweite sprach: »Wenn er mich nähme, ich wollte ihnen Jacken und Hosen geben.« Die dritte aber sprach: »Wenn er mich nähme, ich brächte ihm drei Kinder zur Welt mit goldenen Kreuzen auf der Stirn.« Der König hörte das auf seinem Schloss mit an, ließ die drei Hirtentöchter holen und heiratete die Dritte, die gesagt hatte, dass sie ihm drei Kinder mit goldenen Kreuzen zur Welt bringen würde. -

Nicht lange nach der Hochzeit musste der König in den Krieg ziehen, unterdessen gebar seine Gemahlin auf einmal zwei Knaben und ein Mädchen mit goldenen Kreuzen auf der Stirn. Die taten die Schwestern der Königin in drei Schach­teln und setzten sie aufs Wasser, dass sie sterben sollten. Dem König schrieben sie, seine Gemahlin hätte zwei junge Hunde und eine junge Katze geboren. Und der schrieb erzürnt zu­rück, dass sie eingemauert, aber mit Speise und Trank ver­sehen werden sollte. Nach Jahren kam der König erst wieder aus dem Krieg zurück. Eines Tages ging er auf die Jagd, da kam er in einen wunderschönen Garten, den er noch nie gesehen hatte, und in dem Garten war ein wunderschönes Schloss, das er auch nicht kannte, und um das Schloss her war ein tiefer Graben, in den mündete das Wasser, auf das die falschen Schwägerinnen des Königs die drei Schachteln gesetzt hatten. In dem Wasser­graben aber ritten drei Kinder auf Pferden, zwei Knaben und ein Mädchen, die hatten die Stirn mit Tüchern verbunden.

Der König rief sie an, sie kamen nicht, und er kehrte betrübt zurück. Als er aber den falschen Schwägerinnen erzählte, was er gesehen hatte, merkten sie, dass die drei Königskinder noch am Leben waren, und die älteste von ihnen, die eine Zauberin war, ging an dem Wasser entlang und kam zu den drei Kindern, die in dem verzauberten Garten auf dem tiefen Wassergraben ritten. Da trat sie an den Graben, und da der älteste Knabe an ihr vorbeiritt, sprach sie: »Es ist kein schöne­rer Garten auf der Welt, als der, darinnen ihr seid. Und wenn ihr noch dreierlei in dem Garten hättet, der um euer Haus herum ist, so hättet ihr alles, was ein Herz sich wünschen kann.«

»Was ist denn das?« fragte der Knabe. Da antwortete die falsche Schwägerin des Königs: »Sprin­gendes Wasser, sprechender Vogel und singender Baum!« Sie dachte aber, er würde sterben, wenn er auszöge, die drei Dinge zu holen. Da lenkt der älteste Knabe sein Pferd aus dem Wassergraben, nimmt das Tuch von der Stirn, hängt es an das Schloss und sagt: »Wenn das Tuch blutig wird, so ist mir Unglück widerfahren.« Damit zieht er fort, und der König sieht am folgenden Tag nur noch zwei Kinder auf dem Wasser reiten.

Als der älteste Knabe eine Strecke weit geritten ist, sieht er einen großen Baum und ein kleines Häuschen daneben. Un­ter dem Baum sitzt ein alter Mann mit langem Haar und ganz vom Bart zugewachsenem Gesicht. Der ermahnt ihn lange Zeit umzukehren; allein der Knabe lässt sich dazu nicht bewe­gen. Er schneidet dem alten Mann Bart und Haar, und darauf führt ihn der Alte an einen Berg; vor dem binden sie das Pferd des Jünglings an, und der Greis sagt: »So zieh denn hinauf, Jüngling! Auf dem Berg findest du, was du suchst: springen­des Wasser, sprechenden Vogel und singenden Baum. Ich bin der Mann, der den sprechenden Vogel füttern muss. Aber du darfst dich nicht umschauen, sonst steht sogleich dein Leichenstein da, wie dort am Berg schon Tausende von Leichen­steinen stehen. An jedem Leichenstein stehen die letzten Gedanken des Menschen, und so würden auch deine letzten Gedanken rasch an dem Leichenstein stehen, wenn du dich umschautest.« Der Knabe beginnt nun, den Berg hinaufzureiten. Als er aber eine Strecke weit hinauf ist, scheinen ihm Tausende von Bären zu brüllen und Millionen von Schlangen zu zischen. Er bleibt jedoch noch standhaft; als es ihm aber plötzlich ist, wie wenn sein Bruder hinter ihm seinen Namen rief, dreht er sich um. Sogleich ist er sein eigener Leichenstein; daran stehen seine letzten Gedanken voll Liebe und zärtlicher Sorge um seinen Bruder.

Als dies geschehen war, sah der zweite Bruder, der noch daheim bei seiner Schwester war, an dem Tuch, das auf einmal ganz blutig geworden war, dass seinem Bruder ein Unglück widerfahren war. Da kam auch die Zauberin wieder und ermahnte ihn, dass er seinem Bruder zu Hilfe eilen sollte, der ausgezogen sei, springendes Wasser, sprechenden Vogel und singenden Baum zu holen. Sie glaubte aber, dass er auch noch umkommen würde. So brach er nun auch auf, nahm das Tuch von der Stirn, hing es ans Schloss und sprach: »Wenn das Tuch blutig wird, so ist mir Unheil widerfahren.« Und damit zog er seinem Bruder nach. Und als der König am nächsten Tag wieder auf die Jagd zog, sah er nur noch das Mädchen ums Schloss reiten. Der zweite Bruder aber kam zu dem alten Mann, der wieder unter dem Baum saß, und er ermahnte ihn, zu seiner Schwester zurück­zugehen. Er aber ließ sich nicht zurückhalten, und der alte Mann gab ihm Baumwolle, die musste er in die Ohren stop­fen, damit er so wenig wie möglich hören könnte, wenn er auf den Berg stieg. Er führte ihn nun wieder an den Berg, worauf die drei Dinge sich befanden, und an seinem Fuße banden sie wieder sein Pferd an. Der Knabe begann, den Berg emporzusteigen, und gelangte glücklich bis an seines Bruders Leichenstein. Da weinte er bitterlich, und in demselben Au­genblick zogen ihn unzählige Schlangen am Rock; dennoch ging er weiter. Da war es ihm plötzlich, als riefe hinter ihm seine Schwester. Da drehte er sich um und war in einen Leichenstein verwandelt, und auf dem standen seine letzten Gedanken an seine Schwester verzeichnet.

Am Schloss wurde nun auch das zweite Tuch blutig; da kam die Zauberin wieder und forderte auch das Mädchen auf, ihren Brüdern zu Hilfe zu eilen, die ausgezogen waren nach springendem Wasser, sprechendem Vogel und singendem Baum zu sehen; sie hoffte aber, dass das Mädchen nun auch noch umkommen würde. Da ritt das Mädchen fort, fand den Greis unter dem Baum, und er sprach: »Ich zweifle sehr, dass es dir gelingen wird, deine Brüder zu retten und das sprin­gende Wasser, den sprechenden Vogel und den singenden Baum zu erlangen, denn stehen dort am Berg schon die Leichensteine unzähliger mutiger Männer, die nach den drei Dingen auszogen und es doch nicht über sich bringen konn­ten, immer unverzagt vorwärts zu dringen. Willst du dich aber nicht zurückhalten lassen, so nimm hier von meinen Haaren und verstopfe dir die Ohren damit, denn die Baum­wolle, die ich deinem zweiten Bruder gegeben habe, scheint sein Ohr nicht geschützt zu haben vor den falschen Stimmen am Berg.« Der Greis begleitete das Mädchen wieder bis an den Fuß des Berges, und sie begann, den Berg hinanzuklimmen.

Mit betrübten Herzen las sie, was an den Leichensteinen ihrer Brüder stand, aber schnell fasste sie wieder Mut, ging weiter -und wie viel tausend Schlangen auch ihr Kleid anfassten, so gelangte sie doch zu der Stelle, wo das springende Wasser lustig sprang, der singende Baum seine Lieder sang und der sprechende Vogel in einem Käfig hing. Als der sie sah, wurde er so wütend, als wolle er sie töten. Sie aber legte die Hand auf den Kopf des sprechenden Vogels, da wurde der ganz zahm und freundlich und sprach: »Nun sind deine beiden Brüder gerettet, tu nur alles, was ich dir heißen werde, und nimm mich mit. Hier unter meinem Bauer steht eine Flasche, die schöpfe voll aus dem springenden Wasser, auch brich einen Zweig vom singenden Baum - und bewahre alles gut, denn wenn es in fremde Hände kommt, so ist alles verloren.«

Als die Jungfrau diese Aufträge erfüllt hatte, wie der Vogel es ihr geheißen, nahm sie den Käfig mit dem sprechenden Vogel und stieg mit den drei Dingen den Berg hinab. Wie sie an die Leichensteine ihrer Brüder kamen, hieß der Vogel sie die Steine mit seinem Speichel bestreichen. Als sie das getan hatte, waren ihre Brüder sogleich wieder lebendig und stiegen mit ihr den Berg hinab. Wie sie an die Hütte des Greises kamen, lag der unter dem Baum in einem Sarg, und neben ihm stand sein Leichenstein, daran war sein letzter Gedanke geschrieben, der hieß: »Ich habe genug gelebt.« Als die drei Geschwister in ihren Garten zu dem Schloss zurückkehrten, fanden sie dort den König, der mit Trauer die drei Tücher betrachtet hatte, von denen zwei blutig waren, obwohl er nicht wusste, was es bedeutete.

Der sprechende Vogel gab sogleich die Stelle in dem Garten an, wo er hingehängt werden wollte, wo das Wasser hingegossen werden müsse und wo der Zacken vom singenden Baum hingestreckt werden solle. Als das geschehen war, sprang das Wasser als der köstlichste Springbrunnen in die Luft, und der Baum, der aus dem Zacken sogleich hervorgewachsen war, machte die schönste rauschende Musik.

Da hatte der König eine große Freude am springenden Was­ser und am singenden Baum, aber der kluge Vogel sprach zu ihm: »Erkennst du nicht an den drei goldenen Kreuzen auf der Stirn dieser Kinder, wer sie sind? Lass nur nachsuchen am Wasser, so wirst du noch die drei Kästchen finden, in denen deine falschen Schwägerinnen deine Kinder ausgesetzt haben. Danke Gott, dass sie noch erhalten sind, und eile, König! Dein unschuldiges Weib, die du hast einmauern lassen, wieder zu dir zu nehmen, drücke die Kinder als deine Leiblichen ans Herz, und lass deine falschen Schwägerinnen von vier Pferden zerreißen.« Wie die drei Kästchen gefunden waren, da war das Schloss mit dem tiefen Graben verschwunden. Doch der Garten mit dem sprechenden Vogel, dem singenden Baum und dem springenden Wasser blieb, und die Kinder gingen darin oft mit ihrem Vater und ihrer Mutter, die der König wieder zu sich genommen hatte, wie in einem schönen Lustgarten spazieren.

Seine bösen Schwägerinnen aber ließ der König von vier Pferden zerreißen.