Die tugendhafte Hildegard

Aus: Aachens Sagen und Legenden gesammelt von Dr. Joseph Müller, Aachen 1858 

Als Bürger der Stadt Aachen möchte ich mir erlauben, auch die Sagen und Legenden von Karl dem Großen hier zu veröffentlichen, in denen vom Heilen die Rede ist. Natürlich sind das keine Märchen. Alle Märchenfreunde mögen es mir nachsehen.

Karls zweite Gemahlin war die fromme Hildegard von edler schwäbischer Herkunft. Sie gebar dem Kaiser drei Söhne: Karl, Pipin und Ludwig und eben so viele Töchter Rotrude, Bertha, Gisela. Wegen ihrer Leutseligkeit und ihres erbaulichen und gottesfürchtigen Wandels stand sie überall in hoher Achtung und dennoch gelang es dem gottlosen Taland, einem Stiefbruder Karls, sie in schändlichster Weise zu verleumden und des Kaisers Eifersucht in dem Grade zu erregen, dass er sie verstieß und die schwersten Strafen über sie verhängte.
Als Karl nämlich gegen die ungestümen, wilden Sachsen in den Krieg zog, übertrug er Taland die Statthalterschaft zu Aachen. Derselbe hegte aber zu der tugendhaften Hildegard unlautere Begierden, die er schamlos genug war, ihr offen an den Tag zu legen. Sie wies indessen sein schnödes Ansinnen mit gerechter Entrüstung und tiefer Verachtung zurück und suchte seine Gegenwart auf alle mögliche Weise zu vermeiden.
Da aber Taland seine verbrecherische Gedanken nicht fahren ließ, vielmehr stets auf neue Listen und Ränke sann, um sich der Kaiserin zu nähern und fortfuhr sie mit ungestümen Zudringlich¬keiten zu behelligen, so blieb ihr kein anderes Mittel übrig, als sich durch ein kühnes Wagnis seinen Verfolgungen zu entwinden. Sie zeigte sich nämlich eines Tages recht freundlich gegen ihn und erweckte in ihm die Hoffnung, als werde sie endlich seinen Wünschen nachgeben. Diese Erwartung wurde in seinem Sinne aber zur nahen Wirklichkeit gesteigert, als die Kaiserin ihm auftrug, drei Zimmer in einem abgelegenen Teile des Palastes für sie herrichten zu lassen und dieselben mit wohl verschließbaren Türen zu versehen. Sobald die Gemächer fertig seien, wolle sie dieselben nur von Taland begleitet, in Augenschein nehmen.
Nach wenigen Tagen schon teilte er der Kaiserin mit, dass ihr Befehl ausgeführt und die bewussten Räumlichkeiten eingerichtet seien. Sie bezeichnete daher Tag und Stunde, in der Taland ihrer in dem hintersten der drei Gemächer harren sollte. Zur bestimmten Zeit erschien sie wirklich ohne alle Begleitung in den Gemächern und der böse Schalk war nun seines Sieges gewiss.
Allein wie bitter sah er sich getäuscht, denn als die Kaiserin sich dem dritten Gemach näherte, ergriff sie plötzlich die Türe, warf dieselbe mit Heftigkeit zu, verschloss und verriegelte sie und eilte, nachdem sie in gleicher Weise die beiden andern Türen sorgsam verschlossen hatte, in ihre Behausung zurück, wo sie Gott inbrünstig dafür dankte, dass er ihr Kraft und Stärke verliehen habe über den Frevler zu siegen und ihre Unschuld zu wahren.
Wutschnaubend erkannte Taland jetzt, dass er von einer Frau überlistet worden sei und er sich selbst sein gut verschlossenes Gefängnis eingerichtet habe. Hier sollte er bis zur Heimkehr des Kaisers seine beabsichtigte Schandtat büßen, zur Zeit wollte Hildegard ihrem Gemahle dann das Vorgefallene treulich mitteilen, damit er selbst über den Gefangenen das Urteil fälle.
Als aber die frohe Botschaft erscholl: Die Sachsen seien vollständig besiegt, ihre Anführer und Tausende der Ihrigen hätten die heilige Taufe empfangen und Karl werde ruhmbekränzt in wenigen Tagen nach Aachen zurückkehren, da wollte denn die edelmütige und weichherzige Hildegard dem Kaiser die Freude über den Sieg durch die Kunde eines erlittenen Schimpfes in seinem Palast nicht vergällen und beschloss daher, den Taland vor seiner Heimkehr der Haft zu entlassen und dem Kaiser die traurige Mär zu verschweigen, in der Voraussetzung, dem Freigelassenen werde am meisten daran gelegen sein, dass seine Schandtat nicht vor den Gebieter kommen möchte.
Die tugendhafte Frau bedachte nicht, dass derjenige, welcher das Laster verheimlicht, dem Lasterhaften Vorschub leistet und oft selbst dadurch das Opfer der Bosheit wird. Taland hatte in seiner einsamen Haft nur auf Rachepläne gegen die Kaiserin gedacht und beeilte sich dieselben alsbald ins Werk zu setzen. Er erzählte dem Kaiser schändliche Geschichten von geheimen Buhlschaften, welche Hildegard während seiner Abwesenheit gepflogen habe. Weil er aber ihren Lebenswandel treulich überwacht, so habe sie ihn einkerkern lassen, um ihr Unwesen desto ungestörter treiben zu können. Er sei erst vor wenigen Tagen in Freiheit gesetzt worden in der Voraussetzung, er werde das Herz des Kaisers durch die Mitheilung von der Untreue seines Weibes nicht betrüben wollen, allein die Pflicht gegen den Gebieter und seine treue Anhänglichkeit an denselben zwängen ihn zu dem Bekenntnis des dem Kaiser zugefügten Schimpfes. Der ganze Hof sei Zeuge seiner geheimen Gefangenhaltung.
Darob entbrannte Karls Zorn in lichten Flammen, er verstieß Hildegard von seiner Seite und verwies sie auf ewig bis zu den äußersten Marken des Landes und verordnete diesen strengen Befehl sofort auszuführen. Die unschuldig Verstoßene eilte zu ihrer Schwester, der Gräfin Adelinde in Schwaben, welche sie, von ihrer Unschuld überzeugt, freundlich aufnahm. Später begab sie sich nach Rom, wo sie unerkannt in Gottes heiligen Willen ergeben mit allem Eifer den Übungen christlicher Tugenden oblag. Hier widmete sie sich auch der Krankenpflege und erwarb sich bald einen großen Ruhm in der Heilung der hartnäckigsten Augenübel.
Der Ruf von ihren glücklichen oft wundersamen Kuren verbreitete sich weit über Italiens Grenzen hinaus und war auch in Aachen nicht unbekannt geblieben. Taland hatte nach der Verbannung Hildegards keine heitere Stunde mehr, denn sein Gewissen war erwacht und folterte ihn jetzt Tag und Nacht, dazu waren noch mancherlei körperliche Gebrechen getreten und unter andern auch ein heftiges Augenleiden, welches mit völliger Blindheit zu drohen schien.
Da nun Karl wichtiger Geschäfte wegen nach Rom reisen musste, so bat der unglückliche Verleumder denselben, ihn doch dahin mitzunehmen, ob er vielleicht dort Heilung fände. Der Kaiser wollte ihm diese Bitte nicht abschlagen, obgleich die Ärzte der Meinung waren, dass eine Herstellung der Augen Talands unmöglich sei. So zog der fast Erblindete mit nach Rom um Hilfe und Trost bei derjenigen zu suchen, die er mit Schmach und Unehre überhäuft, mit Schimpf und Schande aus der Heimat verbannt hatte. So wunderbar sind Gottes Wege. Taland hatte das Glück seine Augen in nicht gar langer Frist vollkommen hergestellt zu sehen und sich auch sonst einer guten Gesundheit zu erfreuen.
Karl, der diese wunderbare Heilung sah, wünschte sehnlichst die kenntnisreiche und, wie er vernommen hatte, ebenso bescheidene und fromme Frau persönlich kennenzulernen und berief sie daher zu sich. Dieselbe erschien von Kummer gebeugt, doch frei und offen, würdevoll und ernst vor dem Kaiser. Welcher Schrecken und welch Erstaunen ergriffen ihn aber in diesem Augenblicke! Er erkannte sogleich in dieser Frau seine einst so heiß geliebte Hildegard, die Mutter seiner Kinder, die er ungehört verurteilt und verstoßen hatte. In dem schlichten Gewande der Wahrheit erzählte sie Karl nun die ganze Geschichte, welche sich mit Taland zugetragen hatte.
Bittere Neue ergriff das Herz des Kaisers, denn er erkannte die Unschuld seiner treuen Gattin und das große Unrecht, welches er gegen sie begangen. Er sah die Verruchtheit und Verworfenheit des Verleumders ein und verurteilte ihn, nachdem er seine Schuld bekannt hatte, zum Tode.
Hildegard wurde aber die Fürsprecherin ihres Feindes und Verfolgers und bewirkte beim Kaiser, dass die Todesstrafe in Verbannung gemildert wurde. Karl nahm seine Hildegard als treue Gattin wieder auf und kehrte hochentzückt und unter dem Zujauchzen der Menge mit ihr in Aachen wieder ein.
Aus Dankbarkeit zu Gott, der ihre Unschuld so wunderbar an den Tag gebracht und ihre Ehre wieder hergestellt hatte, stiftete sie im Jahre 773 das Kloster Kempten. „Wie unerforschlich, sprach sie oft, sind die Ratschlüsse der Vorsehung! Der Herr bediente sich desselben Werkzeuges, was mich um Ehre und Dasein bringen wollte, um mir die Ehre wiederzugeben und mich ins Leben zurückzuführen. Sein Namen sei gepriesen immerdar!“