Der Traum von Nam Kah oder Der Hirsebrei von Millet

Vietnamesisches Märchen

Es war das dritte Mal, dass Lu Sinh bei der großen Staatsprüfung scheiterte.
Das Unglück hörte nicht auf, ihn zu verfolgen, während andere Studenten, die weniger begabt und weniger klug waren, mehr Glück hatten.
Traurig verließ Lu Sinh die Hauptstadt, und ging zu Fuß in sein Dorf zurück. Sein Bündel trug er am Ende eines Stockes. Als er die Gegend von Nam Kah durchquerte, wurde er im Gebirge von einem Platzregen überrascht. Er flüchtete in eine Höhle, die einem alten Taoisten als Wohnung diente. Der Eremit ließ ihn auf dem einzigen Möbelstück in der Grotte Platz nehmen, einem Bett aus glattem Stein.
Während er aufmerksam einen Topf mit kochender Hirse überwachte, fragte er Lu Sinh freundlich nach seiner Geschichte. Lu Sinh vertraute ihm alles an: seine Fehlschläge, seine Absicht, neu zu beginnen, seine Wünsche und Hoffnungen. Der Eremit hörte ihm ruhig zu und bat ihn dann, sich auf dem Bett auszuruhen, bevor er seine Reise fortsetze. Drei Jahre nach dieser Begegnung war Lu Sinh der beste Arzt des Reiches geworden. Und so stellte sich der Ruhm über Nacht ein. Zuerst wurde ein eindrucksvolles Ritual vollzogen: Es begann mit der Verkündigung seines Namens vor versammelter Menge durch den Herold mit einem dröhnenden Sprachrohr, feierlichem Anlegen des Hofkleides durch einen berühmten Mandarin, Umzug auf einem weißen Pferd durch die Stadt, dann bis zum Dorf, wo während einiger Tage ein Freudenfest dem anderen folgte.
Dann wurde die Übernahme wichtiger öffentlicher Ämter vollzogen, die Hochzeit mit einer Prinzessin gefeiert — der schönsten Tochter des Kaisers —, und schließlich folgte nach einigen Jahren die Geburt schöner Kinder, die Ernennung zum ersten Minister ...
Nachdem Lu Sinh sehr schnell auf dem Gipfel von Reichtum und Ehren angelangt war, lebte er so fünfzehn Jahre unangefochten.
Unvermittelt wurde das Land von Barbaren überfallen. Die ersten Schlachten endeten für den Kaiser unheilvoll; als man jedoch Lu Sinh zum Oberkommandierenden berief, schlug er die Barbaren zurück, eroberte er sogar ihr Land und tötete ihren König. Aber die wilde Anmut der Königin nahm ihn gefangen und hielt ihn bei ihr zurück. Von einer unwiderstehlichen Leidenschaft gepackt, vergaß er vollständig seine Frau, sein Heim, seine Pflichten gegenüber Kaiser und Land. Vergeblich rief ihn der Kaiser zurück. Er musste schließlich eine Expedition gegen ihn ausschicken. Lu Sinh erhob sich und wollte mit Macht Widerstand leisten, aber seine eigenen Offiziere verrieten ihn und lieferten ihn aus.
Trotz der Tränen seiner Frau wurde er vom Kaiser zum Tode verurteilt. In der Nacht vor der Hinrichtung ließ er nochmals sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen: seine arme Kindheit, die Mühsal seines Studiums, den glänzenden Aufstieg, das Glück, dann die berauschende Leidenschaft und die Verwirrung und den plötzlichen Fall...
Lu Sinh öffnete die Augen: er befand sich in der Grotte und lag auf dem Steinbett; nahe bei ihm, auf der Erde kauernd, rührte der Alte langsam seinen Hirsebrei. Nur das leichte Geräusch seiner Stäbe auf dem Boden des Topfes, das sich mit dem Gesang des Feuers vermischte, störte die Stille der Berge. Der Regen hatte aufgehört. »Junger Mann«, sagte der Einsiedler, »Ihr hattet einen langen Traum. Aber mein Brei ist noch nicht gar. Gebt mir noch einen Augenblick Zeit und macht mir das Vergnügen, mit mir das einfache Mahl zu teilen. «