Der Puls der Prinzessin

dem Kalifen Jajar Sadiq (gestorben 765) zugeschrieben

Sultan Sanjar war von einem Besuch des Grabmals von Bahaudin zu Buchara zurückgekehrt, und seit diesem Zeitpunkt war er stets traurig. Einige Leute brachten die­sen Besuch und die Rückkehr als Ursache und Wirkung in Verbindung, andere wiederum glaubten, dass die Trauer des Königs auf der mysteriösen Krankheit seiner Tochter beruhe. Prinzessin Banu schwand dahin. Es schien, als ob ihr seltsames Leiden Tag für Tag mehr Gewalt über sie bekäme. Alle herbeigerufenen Ärzte waren ratlos.

Dann kam eines Tages ein Fremder in der Hauptstadt des Landes an. Er trug ein grünes Gewand, ging gebeugt und nannte sich Shadrach, der Arzt. Er anerbot sich, die Prinzessin zu heilen. Der König erlaubte ihm, seine Tochter zu sehen, drohte ihm aber, ihn köpfen zu lassen, falls er sie nicht heilen könne. Umgeben von einer interessierten Zuhörerschaft, nä­herte sich der Arzt dem Lager der blassen und geschwächten Prinzessin. Anstatt sie zu untersuchen oder ihr irgendwelche Arzneien zu verabreichen, wie man es von ihm erwartete, begann der grüngewandete Mann der Prin­zessin Märchen zu erzählen.

Die Geschichten handelten von weitentfernten Ländern, von Kriegen und Helden, von Frieden und Ruhm. Während er ihr erzählte, fühlten die Finger des Arztes den Puls der Prinzessin. Endlich war die Diagnose gestellt. Die Prinzessin zog sich zurück und Shadrach wandte sich an den König. »Majestät, ich habe anhand des Pulses festgestellt, dass Ih­re Tochter verliebt ist - und dass sie in jemanden verliebt ist, der sich in Buchara befindet, wo er in der Straße der Juweliere lebt. Und schließlich habe ich festgestellt, dass es sich von allen, die dort wohnen, um keinen anderen als um Abul Fazi - einen jungen hübschen Mann - handeln kann, den ich ihr beschrieben habe. Beim Nennen seines Namens erblasste sie. Ich kenne jedermann in Buchara -und an vielen anderen Orten auch; auf diese Weise entdeckte ich die Ursache ihres Leidens. «

Der König staunte über die Geschicklichkeit dieses Arztes. Er fühlte sich zudem erleichtert, dass die Ursache der Krankheit entdeckt worden war - und er war äußerst zornig, weil seine Tochter Abul Fazi liebte, der als gemeiner Schuft bekannt war. Trotzdem wurde nach diesem Juwelier geschickt. Bald nach seiner Ankunft begann sich die Prinzessin zu erholen. Innerhalb weniger Tage war sie wieder völlig gesund;

der Juwelier spielte sich allerorten als Herr auf, und zur Belohnung wurde Shadrach, der Arzt, zum Großwesir ernannt. Dem König und dem Arzt war klar, dass sich dieser unausstehliche junge Mann nicht für die Prinzessin eignete, Sie wussten aber auch, dass sie ihn weder fortschicken noch anderweitig loswerden durften, ohne das Unglück der Prinzessin wieder heraufzubeschwören.

Shadrach wusste um eine Lösung. Er veranlasste, dass Abul Fazi von einem Arzt behandelt wurde, der ihn täglich vorzeitig altern ließ - so, als ob er zwanzig Jahre älter geworden wäre. Innert kurzer Zeit begannen der Prinzessin sein gebeugter Rücken und seine grauen Haare widerwärtig zu werden. Gleichzeitig unterzog sich Shadrach der Behandlung ei­nes anderen Arztes. Anstatt wie der Juwelier immer älter und älter zu werden, wurde Shadrach dadurch immer jünger und jünger.

Nicht lange danach verliebte sich die Prinzessin in den jungen Arzt. Als Abul Fazi vom Hof verjagt wurde, nahm Prinzessin Banu kaum Notiz davon. Die Prinzessin, der Arzt und der Sultan lebten hinfort glücklich und zufrieden. Auf solche Weise können sich gelegentlich die Dinge entgegengesetzt ihrer Wahrscheinlichkeit entwickeln: je nachdem, welche Einflüsse zur Wirkung gebracht werden.