Die kranke Prinzessin

Märchen aus Südtirol

In der Hauptstadt eines großen Reiches herrschte tiefe Trauer. Kam ein Fremder und fragte nach der Ursache, so gaben ihm gleich zehn für einen zur Antwort, die schöne und einzige Tochter ihres geliebten Königs liege schwer krank darnieder, sie rühre sich nicht mehr und esse und trinke nichts, sodass man nur aus dem schwachen Atem entnehmen könne, sie sei noch am Leben. Die Ärzte seien schon zu Hunderten gerufen worden und hätten Tausende von Mitteln versucht, aber alles umsonst. Und wenn der Fremde dies gehört hatte, so brauchte er nur noch an den Straßenecken stehen zu bleiben und zu lesen: Da stand überall gedruckt, der König wolle seine Tochter demjenigen zur Frau geben, der sie retten würde und damit niemand an der Richtigkeit dieses Versprechens zweifle, hatte der König selbst seine Unterschrift beigefügt.
Fern von der Hauptstadt wanderte ein Jüngling seiner Wege. Er war gar sittsam und schön gewachsen mit frischroten Wangen und fröhlichem Sinne, ob wohl er elternlos in der Welt allein stand und am Gelde, das er hatte, nicht schwer trug. Aber ganz ohne Sorge um seine Zukunft war er doch nicht und so kam es, dass er unversehens in einen Wald geriet, sich verirrte und keinen Ausweg mehr fand. So lief er den ganzen Tag, stieg über manchen niedergebrochenen Baum und wand sich durch manches dichte Gebüsch, bis er beim dämmernden Zwielicht des Abends neben einem großen Baume eine Einsiedlerklause sah. Er ging darauf zu und bat den alten weißbärtigen Einsiedler um Nachtherberge. Dieser erwiderte: »Recht gerne; allein ich habe über meiner Klause nur einen Dachboden mit weichem Mooslager, wo ich dich hinlegen kann. Da magst du wohl weich schlafen, aber ich will dir auch sagen, dass da schon mancher abends auf der Leiter hinaufgestiegen und morgens nicht wieder zurückgekommen ist.« »Ich fürchte mich nicht«, sagte der Jüngling, »ich hab' ein rein Gewissen und mag es daher wohl versuchen.« Der Einsiedler teilte mit dem Gaste den kärglichen Abendimbiss mit einem Kruge schlechten lauen Regenwassers; dann führte er ihn zur Leiter, der Jüngling stieg hinauf und schlief, müde wie er war, bald ein.
Um Mitternacht erwachte er, es war ihm, als habe er im Traume flüstern und kichern gehört. Und richtig, als er auf den großen Baum hinüber sah, den er am Abend neben der Klause bemerkt hatte, erblickte er dort viele Hexen, die saßen auf den Ästen und hatten sich gar viel zu erzählen. »Aber wo bleibt denn heute unser Pantoffel (la nostra ciabatta)?« fragten mehrere. Und sogleich erschien auch die gerufene gar kleine und hässliche Hexe und erzählte mit boshafter Schadenfreude, wie sie in dieser und dieser Stadt die Tochter des Königs so behext habe, dass sie wohl bald sterben müsse. Der König habe bereits alle Ärzte im Lande gerufen, aber keiner wisse da zu helfen.
»Und wäre denn gar kein Mittel mehr?« fragten die Adern.
»O ja«, erwiderte die Kleine. »Man dürfte nur diesen Baum hier neben der Klause ausgraben und eine Wurzel davon in dem Wasser der Quelle sieden, die unter dem Baume fließt. Gäbe man dieses Wasser dann der Prinzessin zu trinken, so würde sie noch in derselben Stunde gesund sein. »Aber«, fügte sie höhnisch lachend hinzu, »wer hat wohl in der großen Stadt eine Ahnung davon? Die schöne Prinzessin muss ihr junges Leben lassen.«
Sie sprachen noch vieles, bis im Osten der Tag graute. Dann flogen sie schwirrend davon, wie ein Schwarm Vögel, welche der nahende Jäger aufschreckt.
Der Jüngling hatte sich alles wohl gemerkt. Der Einsiedler war erstaunt ihn am Morgen so frisch und gesund wiederkehren zu sehen und erzählte ihm, wie er schon lange Jahre in dieser Wüstenei lebe und ihm nichts fehle, als eine Quelle frischen Wassers. Das kam dem Jünglinge gelegen und er verhieß dem Einsiedler eine reiche Quelle, wenn er ihm erlaube, jenen Baum auszugraben. Der Alte wollte anfangs davon nichts hören; endlich aber gab er den Bitten des Jünglings nach, holte Schaufel und Hacke und beide machten sich daran den Baum auszugraben. Es war ein schweres Stück Arbeit und es dauerte lange; endlich aber neigte sich der Baum immer mehr und fiel bald ganz um. Während der Baum noch fiel, sprang auch schon eine volle reiche Quelle des reinsten und besten Trinkwassers empor. Der Einsiedler wusste sich vor Freude fast gar nicht zu fassen; der Jüngling aber schnitt sogleich einige Wurzelenden ab, ließ sich vom Einsiedler ein Fläschchen geben und füllte es mit Wasser. Beides barg er sorgfältig an seinem Leibe und machte sich dann unverweilt auf den Weg, nachdem er zuvor noch den Einsiedler, der ihm gar nicht genug danken konnte, um die Lage jener Stadt und die Richtung des Weges dahin befragt hatte.
Er wanderte unermüdlich weiter und weiter, und als am Morgen des dritten Tages die Sonne aufging, stand er schon an der breiten und hohen Treppe, welche in die Königsburg hinaufführte. Sogleich kamen die Diener und fragten ihn, was er wolle. Dann berichteten sie dem König, es sei ein junger Mann da, der mache sich erbötig, die Prinzessin unverzüglich zu heilen. Der König ließ ihn vor, und da ihm das einnehmende sittige Wesen des Jünglings gefiel, gestattete er ihm den Heilungsversuch zu machen.
Der Jüngling ließ sich in die Küche führen, entfernte die Dienerschaft und tat, was er zu tun hatte. Hierauf trat er in das Zimmer der Kranken und flößte ihr einige Tropfen des Wunderwassers in den Mund. Sogleich schlug sie die Augen auf und es dauerte nur wenige Stunden, so hatte sie auch schon frisch und gesund ihr Schmerzenslager verlassen.
Der König hielt sein Versprechen um so lieber, je mehr der Jüngling auch der Prinzessin gefiel und bald wurde eine so lustige Hochzeit gehalten, wie im ganzen weiten Reiche nie eine war und auch in tausend Jahren keine mehr sein wird. Das neuvermählte Paar lebte glücklich und zufrieden, und wenn der Leser noch mehr wissen will, braucht er bloß in alten Chroniken nachzublättern; denn da wird geschrieben stehen, dass der glückliche Arzt seiner Zeit auch König geworden ist und das Land gerecht, weise und milde regiert und von manchen alten Schäden geheilt hat.