Häuptling Kaire und der Totenkopf

Märchen aus Kolumbien


Der junge Häuptling Kaire wohnt nahe am Fluss. In einem kleinen Dorf wohnt er zusammen mit seiner Frau. Eines Tages geht er auf die Jagd. Einen Hirsch will er jagen, denn Häuptling Kaire und seine Frau essen gern Fleisch. Er geht in den Wald und jagt. Und als er da so lauert, sieht er, dass sich im Gebüsch etwas rührt. Er zielt und schießt seinen Pfeil ab. Er trifft: das Tier stürzt zu Boden. Häuptling Kaire geht hin. Was zieht er heraus? Einen Menschen. Einen Toten. Kaire ist entsetzt. Da sagt der Tote: »Kaire, fürchte dich nicht. Gut, du hast mich umgebracht, aber ich weiß, du hast es nicht absichtlich getan. Wenn du tust, was ich dir sage, dann werde ich dir nicht böse sein. « — »Und was willst du, dass ich tun soll?« — »Schneide mir den Kopf ab, und nimm ihn mit heim. Den Leib aber wirf in den Fluss! «
Kaire tut alles, was der Kopf sagt. Er schneidet ihn ab, wirft den Leichnam in den Fluss, den Kopf aber legt er in einen Sack und nimmt ihn mit. Er geht und geht, da sagt der Kopf: »Lasse mich herausschauen! « Kaire nimmt den Kopf heraus. »So, nun nimm einen Pfeil und schieß in jene Richtung! « Kaire tut alles genau so. Der Pfeil trifft einen Hirsch. Kaire hat ihn gar nicht gesehen. Der Hirsch ist tot. Kaire will sich den Hirsch auf die Schulter laden. Aber wie soll er dann den Kopf tragen? »Lasse nur! « sagt der Kopf. »Ich rolle hinter dir her. Geh du nur voraus! «
Wie Kaire heimkommt erschrickt die Frau, weil hinter dem Häuptling ein Totenkopf gerollt kommt. »Du brauchst dich nicht zu fürchten! « sagt Kaire. »Der Kopf tut dir nichts. Er ist wie ein Bruder. «
Die Frau brät das Fleisch und kocht den Brei. Als alles gargekocht ist, bringt sie es. »Willst du auch essen? « fragt Kaire den Totenkopf. »Ja«, sagt der Kopf, »wenn deine Frau mir das Fleisch vorkaut, denn meine Zähne sind nicht mehr gut. Aber den Brei kann ich so essen. «
So lebten sie zu dritt in der Hütte. Kaire geht mit dem Kopf auf die Jagd. Aber nach vierzehn Tagen sagt der Kopf: »Nun liebe Freunde, muss ich für einige Tage fortgehen. Ich habe zu tun. Trag mich in den Wald! Lege mich dorthin, wo du mich erschossen hast! In einer Woche kannst du wiederkommen, um mich zu holen. «
Kaire nimmt den Kopf, geht mit ihm in den Wald, und er legt ihn wieder dorthin, wo er ihn gefunden hatte. Dann kehrt er nach Hause zurück. Eine Woche lang geht er auf die Jagd, eine Woche lang geht er zum Fischen, aber er trifft kein Wild und fängt keinen Fisch. Als dann der Kopf wieder bei ihm ist, hat er wieder Glück wie der beste Jäger. So vergehen viele Monate. Kaire und seine Frau bekommen einen Sohn. Ein schönes Kind. Wenn der Kopf nicht mit Kaire auf der Jagd oder beim Fischen ist, sitzt er beim Kind. Das Kind wächst. Kaire und seine Frau bekommen auch noch eine Tochter. Von Zeit zu Zeit muss Kaire den Totenkopf in den Wald tragen, dann muss er ihn nach einer Woche wieder holen.
Eines Tages geht Kaire baden, die Frau aber ist in der Hütte. Die Kinder spielen im Gras. Da kommt eine giftige Schlange, die will die Kinder fressen. Aber der Kopf rollt auf sie zu und kämpft mit ihr.
Als Kaire heimkommt, findet er neben den Kindern eine Giftschlange mit zermalmtem Kopf.
Aber der Totenkopf ist krank. Er sagt: »Die Schlange hat mich gebissen. Ich bin voll Gift. Höre zu, und tu genau alles so, wie ich es dir sage! « — »Ich höre. « — »Gut. Nimm mich und verbrenne mich! Verbrenne mich so lange, bis alles zu Asche geworden ist! Dann fülle die Asche in einen Beutel. Du wirst dabei einen blauen Stein finden. Den nimm heraus und hänge ihn deiner Tochter als Amulett um! Die Asche aber vergrabe im Walde, wo du mich gefunden hast! « Kaire macht alles genauso, wie es der Kopf befohlen hat. Er vergräbt die Asche im Wald, dort wächst eine Palme. Bei der Palme findet Kaire jede Woche Wild. Nur eine Woche im Monat findet er dort nichts.
Die Kinder werden groß, sie werden heiratsfähig. Es finden sich viele Burschen, welche die Tochter von Kaire heiraten wollen. Einer bekommt sie, ein Sohn eines Häuptlings. Als er sich zu ihr in die Matte legen will, sieht er den blauen Stein, der leuchtet im Finstern.
»Was hast du da am Hals? « fragt er. »Das ist ein Stein«, sagt die junge Frau. »Nein, das ist kein Stein. Das ist ein Zauber¬auge. « Und er läuft davon. Einige Zeit später kommt wieder ein junger Bursche und heiratet das Mädchen. Und wieder, wie er sich zu ihr in die Matte legen will, sieht er den blauen Stein. »Was hast du da am Hals? « — »Einen Stein.« — »Nein, das ist ein Zauber¬auge. Es schaut mich ganz bös an. « Und auch der zweite Bursche läuft davon.
Jetzt haben alle Burschen Angst. Keiner mehr will das Mädchen heiraten. So vergehen viele Monate. Eines Tages kommt ein junger, einäugiger Bursche. Es ist die Woche ohne Fleisch. Aber der Einäugige bringt Wild und Fische. Er setzt sich zu Kaire und sagt: »Deine Tochter gefällt mir. « — »Ja«, sagt Kaire, »aber sie hat einen bösen Zauber, und deshalb will sie niemand haben. « — »Ich will sie schon haben«, sagt der Einäugige.
Einige Zeit später ist die Hochzeit. Am Abend steigt der Einäugige zum Mädchen in die Matte. »Lasse mich einmal deinen Stein sehen! « — »Hier!« — Sie zeigt ihm den blauen Stein. Der Einäugige nimmt den Stein und steckt ihn sich in die Augenhöhle, wo das Auge fehlt.
Am andern Tag sagt Kaire zu seiner Frau: »Der Einäugige ist besser als die andern Burschen. Er ist nicht davongelaufen. « Da kommt ein Mann aus der Hütte der Tochter. Es ist kein Einäugiger, er hat zwei Augen. Eines davon ist blau. »Schwiegervater«, sagte der Zweiäugige, »ich werde jetzt immer auf die Jagd gehen. Du brauchst nicht mehr zu arbeiten. Nur einmal im Monat, da werde ich fortgehen zu den Meinen. Dann kannst du hier im Fluss fischen. Du wirst immer viele Fische fangen. « Und so war es.