Sim Chung und der Prinz

Märchen aus Korea

Vor langer, langer Zeit lebten in dem »Land der Morgenstille« ein blinder Mann mit dem Namen Sim Bong Sa und seine Tochter Sim Chung. Als das Mädchen noch ein hilfloses kleines Baby war, starb seine Mutter. Der unglückliche Vater musste nun von Tür zu Tür um Milch betteln gehen. Die Frauen in der Nachbarschaft hatten Mitleid mit dem hilflosen Wurm und gaben ihm gerne Milch von ihren Brüsten. Nach und nach wuchs das Kind zu einem schönen Mädchen heran. Sie begann für fremde Leute zu arbeiten und Geld zu verdienen, um ihren Vater zu unterstützen. Ihr Liebreiz und ihre Geschicklichkeit gewannen die Aufmerksamkeit einer reichen Dame, die das Mädchen zu sich in ihr Haus nahm.
Sim Chung arbeitete jeden Tag in diesem reichen Haus und kam am Abend zu ihrem Vater zurück. Eines Tages jedoch war es sehr spät geworden, und das Mädchen war noch nicht heimgekehrt. So ging der arme Vater seine Tochter suchen. Und als er in der Dunkelheit seinen Weg ertastete, rollte er in einen Graben.
Ein vorbeikommender Mönch half ihm auf. Als er sah, dass der alte Mann blind war, sagte er ihm, dass er — wenn er nur dreihundert Säcke Reis dem Buddha-Tempel Mongunsa opfern und beten würde, sein Augenlicht wiedergewinnen könnte. Der arme Blinde seufzte, denn dreihundert Säcke Reis waren wie tausend Schlösser für ihn. Niemals würde er das Geld haben, um sie zu kaufen. Als Sim Chung von dem seltsamen Abenteuer ihres Vaters mit dem Mönch hörte, baute sie in ihrem Garten einen Altar. Jeden Abend kniete sie davor nieder, blickte auf die sieben Nord-Sterne und bat alle Geister des Himmels und der Erde, die Augen ihres Vaters zu öffnen. Eines Tages hörte sie, dass eine Gruppe von Seeleuten, die mit den Kaufleuten von Nankin Handel trieben, ein junges Mädchen von sechzehn Jahren kaufen wollten, um sie als Opfer in das Meer zu stoßen. So wollten sie die bösen Wellen in der tiefen See »Indangsoo« beruhigen, um sicher auf dem Meer zu fahren und ein Vermögen machen zu können. Und Sim Chung hörte, dass sie jeden Preis für ihr junges Opfer zahlen würden.
Sim Chungs Herz hüpfte vor Freude, und sie machte den Handel mit Hilfe einer Nachbarsfrau. Sie sagte: »Ich bin bereit, mich für dreihundert Reissäcke zu verkaufen. Ich muss sie dem Buddha-Tempel spenden, um die blinden Augen meines Vaters zu öffnen. «
Die Seeleute waren über die Ergebenheit des jungen Mädchens tief gerührt und sie hatten großes Mitleid mit ihr, denn sie war zu schön, um in das Meer gestoßen zu werden.
Doch der Handel war abgeschlossen, und sie brachten bald die dreihundert Reissäcke zu Mongunsa und kündeten Sim Chung an, dass das Schiff bei Vollmond im dritten Monat des Jahres lossegeln würde.
Als die Seeleute gegangen waren, sagte Sim Chung zu ihrem Vater: »Sei wieder froh, mein guter Vater! Dreihundert Säcke Reis wurden Buddha gespendet, damit du dein Augenlicht wiedererhältst. « Sim Bong Sa war überrascht: »Woher hast du den Reis bekommen? « Obwohl Sim Chung ein aufrichtiges Mädchen war, sah sie sich dennoch gezwungen, ihrem Vater eine weise Lüge zu erzählen: »Die Ehefrau von Minister Jang, die mich zuerst als Dienstmagd in ihr Haus aufnahm, hat mich als Tochter angenommen und gab mir den Reis als Preis. « — Sim Bong Sa lachte vor Freude und sagte: »Gut gemacht. Wann wird sie dich für immer in ihr Haus aufnehmen? « Da antwortete die Tochter: »Sie wird im nächsten Monat bei Vollmond nach mir senden. «
Der blinde Vater lachte wieder: »Das ist sehr schön. Wenn du in einem anderen Haus leben wirst, dann sollst du dir um deinen Vater keine Sorgen machen. « Von diesem Tag an dachte Sim Chung immer an die verhängnisvolle Reise und zitterte vor Angst. Jedoch ihr Herz war noch mehr bei den Gedanken betrübt, dass sie ihren einsamen Vater verlassen musste; denn es gab niemanden in dieser Welt, der sich um ihn kümmern würde. So wusch und nähte sie die Kleider ihres Vaters für alle Jahreszeiten und legte sie zärtlich in die Truhe. Dann besserte sie den Hut aus Rosshaaren aus und nähte eine neue Perlenschnur daran. Sie tat alles, was in ihren Kräften stand, damit er sich sowohl wie möglich fühlen sollte.
Doch die wechselnden Monde warten auf niemanden. Am Abend vor der Abreise saß sie allein vor einer flackernden Kerze und dachte über ihre traurige Reise nach, die Nadel in den Händen und die Schere auf ihren Knien. Sie versuchte noch mehr Gewand für ihren Vater zu nähen, jedoch heiße Tränen liefen über ihre Wangen. Sie seufzte: »Könnte ich doch diese Mitternacht in einen tiefen Brunnen werfen und die Sonne hoch oben an einem Maulbeerzweig festbinden, so dass nie ein Morgen kommt. Doch wer kann das Kommen und Gehen von Sonne und Mond aufhalten? Oh, traurige Nacht! Hahn, krähe doch nicht in dieser Nacht! Deine grelle Stimme wird mein Herz in Stücke reißen. — Oh, mein armer Vater!«
Zu früh brach der Tag hoch über den Bergen herein, und die roten Sonnenstrahlen der aufgehenden Sonne umklammerten das blutende Herz des jungen Mädchens. Sim Chung stand auf und trat aus ihrer Kammer, um für ihren Vater das Frühstück zu bereiten. Die Seeleute standen schon vor der Tür und sagten: »Die Sonne ist aufgegangen, und das Segel ist voll mit Westwind. Lasst uns bald die Anker lichten. «
Als sie diese Worte hörte, wurde Sim Chungs Gesicht blass wie der Tod, und alles verschwamm vor ihren tränennassen Augen. Nach einer kleinen Weile sprach sie zu den Seeleuten:
»Ja, ich weiß — heute muss ich gehen, jedoch für meinen Vater ist diese Nachricht noch neu. So lässt mich für ihn das letzte Mal das Frühstück zubereiten. Dann werde ich ihm alles erzählen und Abschied nehmen. «
Die Seeleute nickten und willigen gerne in ihre letzte Bitte ein. Sim Chung ging in die Küche, kochte ein herrliches Mahl und stellte einen niedrigen Tisch vor ihren Vater. Dann sprach sie: »Vater, freue dich und iss dich von Herzen satt. «
Sim Bong Sa freute sich wie ein kleines Kind und antwortete: »Liebling! Dieses Essen ist sehr schmackhaft. Warum bereitest du an diesem Morgen ein Festessen? « Sim Chung schluchzte in tiefer Trauer. Sim Bong Sa war erstaunt: »Mein gutes Kind, warum dieses Schluchzen? Hast du dich erkältet? Was schmerzt dich? — Welchen Tag des Monats haben wir heute? Oh, es ist der fünfzehnte — ein Vollmond-Tag. Übrigens, ich träumte letzte Nacht einen eigenartigen Traum. Ich sah dich in einem Wagen von zwei Schimmeln gezogen. Du weißt, nur eine edle Person kann in einem Wagen fahren. Vielleicht ist dies ein gutes Omen für unsere Familie. Oder vielleicht wird dich Madam Jang heute in ihrem Wagen abholen lassen. « Sim Chung wusste, dass dieser Traum ihren Tod voraussagte, jedoch sie gab vor, glücklich zu sein, und sagte: »Vater, was für einen wunderbaren Traum du doch hattest. «
Dann trug sie den Frühstückstisch hinaus und brachte ihrem Vater seine lange Bambuspfeife.
Sim Chung stand auf, ging zu dem Familienschrein und nahm von ihren Ahnen Abschied: »Oh, Geister meiner Ahnen! Eure unwürdige Enkelin Sim Chung hat ihren Körper verkauft, um ihrem blinden Vater wieder das Augenlicht zurückgeben zu können. Bald wird sie in die tiefe blaue See stürzen. Dann wird niemand mehr sein, der für euch Räucherstäbchen anzündet. «
Dann kehrte sie zu ihrem Vater zurück und murmelte leise: »Verzeih mir, Vater, ich habe dich betrogen. Wer würde mir dreihundert Säcke Reis für nichts geben? Um die Wahrheit zu sprechen, bevor ich von dir für immer Abschied nehme: ich habe mich an die Nankin Seeleute als Opfer für das wilde Meer verkauft. Und heute muss ich gehen. « Sim Bong Sa war wie vom Donner gerührt: »Was! Ist dies wahr? Nein, du kannst nicht gehen. Warum hast du nie mit mir darüber gesprochen? Wenn du stirbst, was bedeutet mir da noch das Leben? Ich habe deine Mutter an deiner Wiege verloren, und nun soll ich dich auch verlieren? « — Der alte Mann verlor beinahe die Besinnung.
In der Zwischenzeit war das Schiff voll beladen worden, die Trommel wurde geschlagen, und die Seeleute riefen: »An Bord! Die Flut ist hoch, die Segel sind voll Wind und der Anker ist gelichtet! «
Sim Chung wischte mit ihren langen Ärmeln die Tränen weg, küsste ihren Vater noch einmal und folgte dann den Seeleuten auf das Schiff.
Einige Zeit segelte das Schiff sanft über den ruhigen Ozean dahin, als sie jedoch durch die hohen Wellen der Indangsoo Strömung kamen, brach plötzlich ein Sturm aus. Bald wurden Himmel und Meer dunkel, die zornigen weißen Rosse tosten; das Schiff stampfte und rollte, als ob es von der gähnenden See verschlungen werden sollte. »Hilfe! Hilfe! « schrien die Seeleute. » Der grässliche Drachen kommt. Wir müssen ihn mit diesem jungen Mädchen beschwichtigen, oder wir alle werden Meergeister. « — Dann richteten sich alle Augen auf Sim Chung; sie bedeckte ihr Gesicht mit ihrem rosa Rock, sprang kopfüber in die zornigen Wellen und rief: »Vater, ich gehe! Mutter, ich komme! «
Jedoch merkwürdig zu sagen: kaum hatten ihre Füße die Oberfläche des Ozeans berührt, da nahm eine Seegöttin Sim Chung in ihre Arme, und ein großer Schwärm Fische begleitete sie wie Ehrenwachen. Sie führten Sim Chung tief auf den Grund des Meeres, ja sogar in den Palast des Herrschers der See, des Drachen-Königs. Dieser bewunderte ihre außergewöhnliche Schönheit und nahm sie als seine eigene Tochter an.
Der Palast des Drachen-Königs war wunderbar aus massiven Perlen gebaut und mit Korallen, Rubinen und Smaragden verziert. In der Banketthalle wurde immer musiziert, um die neue Prinzessin zu erfreuen. Doch Sim Chung dachte nur an ihren alten Vater und weigerte sich zu essen oder zu lächeln.
Der Drachen-König hatte Mitleid mit Sim Chung, gab ihr die Freiheit und setzte sie in ein Lotusboot, das sie zurück an die Oberfläche des Meeres brachte.
Der Kronprinz segelte gerade mit seiner Yacht vorbei, als er eine unvergleichliche Schönheit in einem Lotus auf den Wellen tanzen sah. Der leidenschaftliche junge Prinz verliebte sich und machte Sim Chung sofort zu seiner Braut. Viele Tage und viele Nächte wurde die Hochzeit in dem königlichen Palast gefeiert. Dann hielt die neue Prinzessin ein anderes großes Fest ab und lud alle Blinden des Landes dazu ein. Jeden Tag zog eine riesige Menge Blinder in den Palast und an Sim Chung vorbei. Und am letzten Tag des Festes der Blinden erschien auch Sim Bong Sa. In großer Freude lief sie auf ihn zu, fiel ihm um den Hals und rief: »Vater! Vater! Bist du es wirklich? « — Und der blinde Mann rief, von der gleichen Freude überwältigt: »Tochter! Tochter! Bist du es? « — In diesem Augenblick der großen Aufregung öffneten sich seine Augen, "um zum ersten Mal in seinem Leben seinen Liebling, Sim Chung, zu sehen.