Der Bescht fühlt den Puls

Jüdisches Märchen

Einmal gab es zwei Menschen, die Gott mit einem guten Haus beglückte und die ein gutes Einkommen hatten. Sie hatten auch Frauen, Söhne und Töchter, die sie wohl habend aufzogen. Aber eine Sache fehlte ihnen auf ihrer Welt: Dem einen fehlte sein Augenlicht, denn er war blind und hatte einen Fleck auf seinen Augen. Dem Zweiten fehlte der Gehörsinn, er war gänzlich taub. Und beide klagten immer über ihr bitteres Los. Der Blinde sagte: »Allmächtiger Gott, Tausende Menschen hast du auf deiner Welt geschaffen, und allen hast du Augen gegeben, zu sehen, wenn die Sonne aufgeht, die Felder und Weinberge und die blühenden Bäume. Ich aber habe Augen und sehe nichts mit ihnen.«

Und der Taube sagte: »Mein Schöpfer, man sagt von dir, dass du nichts umsonst geschaffen hast und dass jedes Glied, das du dem Menschen und dem Tier gegeben hast, Ziel und Zweck hat. Diese Ohren, die du mir gegeben hast, wozu sollen sie mir dienen? Nur umsonst sind sie an meinem Kopfe festgesetzt, und ich höre nicht.« Da kam ein Wunderarzt in ihre Stadt. Die Leute lobten sein Können, denn er vermochte, die Augen der Blinden zu öffnen und ebenso die Ohren der Tauben.

Da gingen die beiden, verbeugten sich vor ihm und sagten: »Heile uns doch, unser Herr, und nimm von jedem von uns eine volle Tasche Dinare als deinen Lohn.« Sofort verabreichte er ihnen bestimmte Salben. Der Blinde schmierte die Medizin auf seine Augen, rieb sie mit reinem Wasser, und sieh da - sie öffneten sich und konnten alles sehen. Er sah die Pracht des Tages und die große und weite Himmelswölbung. Er sah Menschen wie er, die gehen und laufen zu ihren Arbeiten. Er sah Vieh und Vögel, und alle genossen das strahlende Licht. Auch sein Freund bestrich seine Ohren mit dem heilenden Wasser, und plötzlich hörte er alles, er traf sich mit seinen Freunden, und sie sprachen mit ihm, er hörte ihre Stimme, er konnte zwischen leiser und lauter Stimme unterscheiden, zwischen einer unangenehmen und einer angenehmen Stimme...

Sie freuten sich über die große Änderung in ihrem Leben und eilten in ihr Haus, um ihren Gattinnen die frohe Botschaft zu erzählen. Kaum hatte der Blinde die Tür aufgemacht, und siehe da, eine Frau, hässlich wie ein Scheusal, kam ihm entgegen und sagte ihm: »Wo warst du, mein Gatte?«

Er erzitterte, als er ihre Hässlichkeit sah, und dachte: »Mit einer solchen Frau soll ich mein Leben teilen?« Es wurde ihm bange, und er kränkte sich sehr. Als der Taube nach Hause kam, verfluchte ihn seine böse Frau mit den ärgsten Flüchen, weil ersieh verspätet hatte und wollte ihn gar nicht begrüßen. Da sagte der Geheilte: »Mit der soll ich mein Haus teilen?« Er verstummte, weil seine Seele betrübt war. Und die böse Frau verbitterte das Leben des Mannes, der einmal taub war. Und sie stritt mit ihm noch mehr als früher. Und der Blinde, der sehend geworden war, saß mit seiner Frau, die einer Vogelscheuche glich, bei seinem Tisch und konnte nicht seine Augen zu ihr erheben, denn er war ihrer überdrüssig.

Beide ekelte ihr Leben an, und sie sagten: »Warum hat uns Gott geheilt? Früher ging es uns besser als jetzt.« Die Lehre von diesem Märchen wird wohl jeder verstehen. (M.J. Berditschewski, 1865-1921)