Der Geist des Theophrastus

Es war einmal ein Doktor; der hieß Theophrastus. Auf einem Spaziergang kam er einstens in ein Gehölz. Dort bemerkte er eine hohle Tanne mit sieben Wipfeln. Aus dem hohlen Baume hörte er eine Stimme rufen: »Laß mich heraus! Laß mich heraus!« Er trat nun ganz nahe hinzu, guckte in die Höhlung und fand ein Fläschchen, welches sehr fest verstopft war. Theophrastus nahm es in die Hand und betrachtete es. Da ertönte aus demselben aber­mals die frühere Stimme. Der Spiritus im Fläschchen bat um Befreiung und versprach, wenn er ihn herauslasse, ihm das Kraut des Lebens zu zeigen, mit dessen Saft er alle Krankheiten heilen und Eisen in Gold ver­wandeln könne. Theophrastus ging darauf ein und öffnete das Fläsch­chen. Da sah er; wie aus einem Pünktchen eine Figur sich gestaltete, die nach und nach ein ungeheurer Mann wurde. Dieser forderte ihn auf, ihm zu folgen, und führte ihn etwas tiefer in den Wald. Dort zeigte er ihm das Kraut des Lebens. Dem Theophrastus wäre es nun am liebsten gewesen, wenn er den Spiritus wieder ins Glas hätte bannen können. Er stellte sich darum sehr erstaunt über die Körpergröße des Mannes und fragte ihn: »Sage mir; bist du denn wirklich das Wesen, das im Glase sich befand?« »Ja«, war die Antwort. »Das scheint mir«, entgegnete Theophrastus, »unmöglich, wenn ich mir den Umfang deines Leibes und den Umfang dieses Fläschchens betrachte; ich kann es nicht glauben, wenn ich den Hergang nicht mit aufmerksamem Auge beobachten kann.« Jetzt fing die Gestalt an, sich allmählich zu verkleinern, bis sie derart zusammen­geschrumpft war; daß sie mit Leichtigkeit ins Glas hineinschlüpfte. Plötzlich drückte Theophrastus den Stöpsel wieder fest ins Glas und sagte: »Hast du früher in diesem Raume gewohnt, so bleibe auch ferner darin.« Mit diesen Worten steckte er das Glas wieder in die Tanne.

Beim Weggehen hörte er die Worte seufzen: »Undank ist der Welt Lohn! « Theophrastus sprach: »Wenn das wahr ist, so magst du bleiben, wo du bist, finde ich aber das Gegenteil bestätigt, so will ich nicht der einzige Undankbare unter den Menschen sein und schenke dir die Freiheit.«

Bald kam er auf einen Platz, wo er ein mageres Pferd an einem Baume angebunden fand. »Wie kommst du hierher?« fragte er das arme Tier. Das Pferd wieherte ihm die Antwort zu: »Undank ist der Welt Lohn. Ich habe einem hartherzigen Manne die ganze Zeit meines Lebens treu gedient. Nun ich aber alt geworden bin und meine Kräfte geschwunden sind, wurde ich zum Lohne dafür hier angebunden und dem Hungertode preisgegeben.«

Theophrastus ging weiter. »Dein Urteil ist gefällt«, sprach er; indem er an den Bewohner der Tanne dachte. Er sammelte nun das Kraut des Le­bens und machte zu Hause davon Gebrauch gegen allerlei Krankheiten. Der Ruf seiner Wunderkuren verbreitete sich durch die Welt und er­weckte ihm den Neid der übrigen Ärzte. Es kam so weit, daß sie ihn ver­gifteten, und zwar mit einem Gifte, dessen Wirkung durch das Kraut des Lebens nicht vernichtet werden konnte. Als das Ende seines Lebens her­annahte, rief er seinen Diener zu sich und sprach: »Ich fühle, daß ich bald sterben werde. Höre und achte auf meine Worte. Packe meine Bücher zusammen und wirf sie ins Wasser. Verschone kein einziges Stück und nimm nichts für dich.«

Der Diener ging, packte die Bücher zusammen und trug sie fort. Un­terwegs aber tat es ihm leid, eine so wichtige Sammlung von verborge­nen Geheimnissen ins Wasser zu werfen. Er beschloß, die Bücher für sich zu behalten, um womöglich daraus Nutzen zu ziehen. Als er zurückkam, fragte ihn Theophrastus: »Hast du meinen Befehl vollzo­gen?« »Ja«, sagte der Diener.

»So berichte mir,« sprach Theophrastus, »was du an dem Wasser wahrgenommen. « Der Diener antwortete: »Nichts.«

»So hast du nicht getan, wie ich dir befohlen«, fuhr Theophrastus ihn an. »Geh und führe meinen Auftrag aus. Du kannst mich nicht täuschen, aus deinem Bericht werde ich erkennen, ob du die Wahrheit sprichst.« »Wenn es denn sein muß,« dachte der Diener; »so will ich gehorchen.« Er ging und warf die Bücher in die Flut. Kaum war das geschehen, so be­kam das Wasser an dieser Stelle eine gelbe Farbe, wie Gold. Verwundert hierüber ging er nach Hause und berichtete seinem Herrn, was er gese­hen.

Nun gab ihm Theophrastus noch folgende Weisungen: »Sobald ich gestorben sein werde, träufle etwas von dem Balsam, den ich dir hier übergebe, auf meinen Leichnam und zerhacke diesen in lauter Brei; gib jedoch acht, daß nicht das kleinste Teilchen verloren geht. Dann spunde ihn in ein Faß, so daß keine Luft eindringen kann, und verwahre das Faß an einem verborgenen Orte sieben Jahre lang. Wenn die Zeit um ist, kein Tag weniger und keiner mehr; dann öffne das Faß, und du wirst ein merkwürdiges Wunder sehen.« Kurz darauf starb Theophrastus. Der Diener entkleidete die Leiche und verfuhr genau so, wie ihm ge­heißen worden. Nach langer Zeit fiel es ihm ein, daß die sieben Jahre um sein könnten, und erschrocken darüber; daß es vielleicht schon zu spät sei, eilte er an den verborgenen Ort und fing an, das Faß zu öffnen. Da sah er den vollständigen Körper des Theophrastus darin in kniender Stellung, aber ohne Leben. Im selben Augenblick jedoch zerfiel derselbe durch die eindringende Luft zu Staub. Jetzt erst nahm sich der Diener die Mühe, genau die Zeit von dem Sterbetage an zu berechnen, und siehe da, es fehlte noch ein Vierteljahr. Dadurch war das Wunder der Wieder­auflebung des Theophrastus vereitelt.