Die Titusmücke

Jüdisches Märchen

Titus, der Eroberer Jerusalems und Zerstörer des zweiten Tempels, war durch das Gelingen aller seiner Unternehmun­gen stolz und übermütig geworden. Vom Rausche seiner Größe betäubt, rief er am Tage der Zerstörung des Heiligtums hohnlächelnd aus: »Wo ist nun der Gott Israels, auf dessen Hilfe sie so fest vertrauten? Wo ist seine Macht, wo seine Größe? Möge er doch jetzt kommen und ihnen beistehen, wenn er dazu imstande ist!« Mit frecher Stirne und frecher Stimme drang er ins Allerheiligste ein, in das nur der Hohepriester am heiligen Versöhnungstage zur Verrichtung der feierlichen Opferhandlungen treten durfte. Mit seinem Schwerte zerschnitt er den Vorhang und ließ die heiligen Gefäße des Tempels von seinen rohen Soldaten wegtragen und auf die Schiffe bringen, um sie in Rom seinen Bewunderern zu zeigen und den Völkern prahlend zu verkünden, dass es ihm, dem unüberwindlichen Helden, gelungen ist, den herrlichen Tempel zu Jerusalem bis auf den Grund zu zerstören.

Doch auch ihn, der ja nur eine Zuchtrute in der Hand Gottes war, Israel ob seiner Sünden zu züchtigen, erreichte, als er Gott trotzen zu können glaubte, die gerechte Strafe. Als sich Titus auf der Heimfahrt auf offener See befand, erhob sich plötzlich ein rasender Sturm, der das Schiff bald himmelwärts schleuderte, bald in den tiefen Abgrund des Meeres zu versenken drohte, und es war dem Untergang nahe. In dieser gefahrvollen Lage erbebte Titus, und er gedachte der vermessenen Äußerung, die er getan, doch er demütigte sich nicht.

»Das ist die Rache des Gottes der Juden«, sprach er lästernd. »Auf dem Festlande hat er mir nicht beikommen können, nur auf dem Wasser vermag er seine Kraft zu zeigen. Auch den Ägypterkönig Pharao hat er durch das Meer besiegt. Wenn er wahrhaft Stärke besitzt, wenn er in der Tat der Allmächtige ist, wie ihn die Juden rühmen, so möge er mit mir auf das Trockene kommen, möge sich dort mit mir mes­sen, und wir werden dann sehen, wer von uns beiden den Platz behaupten wird!« »Kurzsichtiger, hinfälliger Sterblicher«, ertönte plötzlich eine Stimme, »wie wagst du es, in deiner Torheit gegen deinen Schöpfer so kühne Sprache zu führen? Siehe, das unbedeutendste meiner Geschöpfe lasse ich gegen dich los, und dieses wird deine ganze irdische Größe zerstören.«

Der entfesselte Sturm hörte auf zu wüten, das aufgejagte Meer ward allmählich wieder ruhig, und das Schiff landete glücklich in Italien. Doch kaum hatte Titus den Fuß auf das Festland gesetzt, da flog ihm eine Mücke in die Nase und kroch ihm in den Kopf hinauf. Trotz aller Anstrengung konnte er sie nicht entfernen, und das Insekt marterte ihn täglich mehr und quälte ihn so, dass jede Ruhe von ihm wich. Unaufhörlich wühlte die Mücke und plagte ihn, sodass ihm das Leben zur Qual wurde. Einmal ging er an einer Schmiede vorbei, da fühlte er plötzlich Erleichterung, denn bei dem Getöse der Hammerschläge war das Insekt erschrocken und hatte nachgelassen, zu wühlen. Erfreut atmete Titus auf, ein Heilmittel gefunden zu haben. Jeden Tag bestellte er einen Schmied zu sich, der vor ihm auf den Amboss hämmerte. Einem Nichtjuden bezahlte er vier Sus und einem Juden sagte er: »Begnüge dich damit, dass du deinen Feind in seinem Schmerz siehst.« Doch auch dieses Mittel versagte bald wieder, da sich die Mücke nach dreißig Tagen allmählich daran gewöhnte und trotz des lauten Schalles die Marter und die Qualen unaufhörlich fortsetzte. Und so unterlag Titus nach sieben schmerzvollen Jahren seinem furchtbaren Leiden. Daher das Sprichwort: »Selbst ein Riese kann durch eine Fliege ersticken.« Die Ärzte öffneten nach seinem Tode seinen Kopf und fanden darin eine Mücke, die bereits die Größe einer jungen Taube erreicht hatte. Sie hatte zwei Pfund an Gewicht. Ihr Schnabel war von Erz und ihre Füße von Eisen. In seinem Testament befahl Titus, dass man seinen Körper verbrennen und die Asche auf sieben Meere hinstreuen solle, damit der Judengott nicht imstande sei, ihn nach dem Tode richten zu können.