La Ramée

Französisches Volksmärchen

Es war einmal ein junger Mann, der hatte sich anwerben lassen; nach sieben Jahren hatte er den Vertrag erneuert. Nach fünfzehn Jahren verließ er den Dienst, doch wollte er nicht zu seiner alten Arbeit zurückkehren. Auf dem Wege traf er einen seiner ehemaligen Kameraden. Dieser redete ihn folgendermaßen an: »Wohin gehst du, La Ramée?« »Ach,« sagte dieser, »ich weiß es nicht! Die Geschäfte gehen eben schlecht, das nimmt mir die Lust zur Arbeit, aber ich weiß nicht, was ich tun soll, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen.« Der andere sagte zu ihm: »Weißt du was, La Ramée? Du wirst ein wenig leiden, aber, bah! Eines Tages wirst du vielleicht froh sein. Ich werde dir die beiden Augen ausstechen und dich als Blinden führen.« Wirklich nahm der andere eine Nadel und stach ihm die beiden Augen aus. Dann führte er ihn von Tür zu Tür und jeder gab ihm, was er verlangte; aber all das Geld, das sie sammelten, steckte der andere in seine Tasche.
Mehrere Jahre führte er ihn so umher und hatte schließlich einige Groschen gespart; da sagte er zu sich selber: »Warte! Jetzt will ich versuchen, mich dieses La Ramée zu entledigen.« Eines Tages schritten sie durch einen Wald, da sagte La Ramée zu seinem Gefährten: »Warte ein wenig, Kamerad! Führe mich in den Wald! Ich muss die Hosen umkehren.« Wirklich führte ihn der andere in den Wald und war sehr froh, dass er jetzt La Ramée loswerden könnte. Er ist also fortgegangen und hat La Ramée im Walde zurückgelassen. La Ramée ruft seinen Kameraden, aber der Kamerad antwortet ihm nicht: Er war fort. Endlich ging La Ramée durch den Wald, sich von einem Baum zum andern tastend. Er kam unter eine große Eiche und hielt dort einen Augenblick still. Es dunkelte schon. Obwohl er nicht sah, fühlte er die einbrechende Kälte und wurde darüber ganz verzweifelt. »Was soll ich jetzt tun? Die wilden Tiere werden mich ohne Zweifel fressen!« Er stieg auf die Eiche. Kaum war er droben, so kam ein Bär. Kaum war der Bär da, so erschien der Wolf und dann kam der Fuchs herbei. Diese drei wilden Tiere kamen jedes Jahr um dieselbe Zeit dort unter der Eiche zusammen. Es war dieser Tag ein Festtag für sie, sie hielten zusammen ein gutes Mahl, und dann erzählten sie sich, was sie das Jahr über erlebt hatten. Nun sagte der Bär zum Wolf: »Was bringst du mit, Wolf?« »Ach,« sagte der, »ich habe ein Schaf mitgebracht.« »Und du, Reineke, was hast du mitgebracht?« »Ach,« sagte der, »ich habe geglaubt, ihr würdet argen Hunger haben und habe ein Huhn mitgebracht. Jetzt rede du, Bär! Du fragst uns, was wir mitgebracht hätten, aber hast du denn selber etwas mitgebracht?« »O ja,« sagte der, »ich habe ein Kalb mitgebracht.«
Die drei Tiere machten sich also daran, ihr Fleisch herzurichten und begannen zu essen. La Ramée, der auf der Eiche saß, hatte große Angst. Als sie mit essen fertig waren, sagte der Bär zum Wolf: »Lass hören, Wolf, was weißt du uns Neues zu erzählen?« »Ach,« sagte der, »eine Menge hübscher Sachen! Siehst du wohl,« sagte er, »wenn ein Mensch wüsste, was ich weiß, so könnte er vielleicht sein Glück machen. Ach,« sagte er, »in Paizé-le-Sec haben sie das ganze Jahr kein Wasser, obwohl es dort eine gute Quelle gibt. Auf dem Platz steht eine Ulme, man brauchte sie nur umzuschlagen und man hätte eine gute Quelle, welche die ganze Ortschaft mit Wasser versehen könnte. Und du, Bär, was weißt du?« »Ach,« sagte der, »die Tochter des Barons von Naintré liegt in den letzten Zügen, und doch wäre sie leicht zu retten. In ihrem Bett sind vier Kröten, eine unter jedem Fuß, und das veranlasst ihre Krankheit. Wenn einer dorthin ginge und die Kröten fortnähme, so wäre sie geheilt. Und, du Reineke, was weißt du?« »Ach,« sagte der, »ich weiß etwas, das viel weniger weit entfernt ist als das Eurige. Ihr seht wohl die Eiche, unter der wir sitzen? Darauf ist etwas, das unbezahlbar ist.« La Ramée hörte es und hatte große Angst. Jener sagte: »Das Moos, das auf dieser Eiche wächst. Wenn einer das Sehvermögen verloren hätte, so brauchte er nur davon zu nehmen und sich damit zu reiben, sogleich würde er wieder sehen.« Schließlich wurde es Tag und die drei Tiere trennten sich, nachdem sie für das nächste Jahr ein Wiedersehen verabredet hatten.
Als die Tiere fort waren, wurde La Ramée ein wenig ruhiger. Dann nahm La Ramée das Moos, rieb sich die Augen zum ersten Male und sogleich begann er das Tageslicht ein wenig wahrzunehmen. Er nimmt ein zweites Mal davon und reibt sich wieder die Augen damit: Nun sieht er vollkommen klar. Dann sagte er: »Um so besser! Auf! Jetzt glaube ich, dass ich nicht mehr unglücklich sein werde.« Und er steckte etwas von dem Moos in die Tasche. Er eilte von einer Ortschaft zur anderen und erbot sich, den Blinden das Augenlicht wiederzugeben; er fand einen Herrn, welcher blind war. Der Herr bot ihm hunderttausend Franken an, wenn er ihn sehend machen wollte. Wirklich hat ihn La Ramée geheilt.
Als er seine hunderttausend Franken hatte, ließ er sich nach Paizé-le-Sec weisen. Er suchte den Bürgermeister auf und sagte zu ihm: »Ich verstehe nicht, dass es kein Wasser in Paizé gibt, wo man doch einen so schönen Brunnen bauen könnte.« Er sagte weiterhin zum Bürgermeister: »Wenn Ihr mir zwanzigtausend Franken geben wollt, so werde ich Euch mitten in der Ortschaft eine Quelle öffnen lassen.« Der Bürgermeister verhandelte mit dem Gemeinderat, und alle waren einverstanden. Sie haben ihm zwanzigtausend Franken gegeben. Nun hatte sich La Ramée das Recht vorbehalten, umzuschlagen, was ihm Vergnügen mache. Wirklich nimmt er zwei Tagelöhner mit und lässt sie die Ulme umschlagen, die auf dem Marktplatz stand. Da fand sich eine schöne Quelle.
La Ramée wandte sich nun nach Naintré, suchte den Baron auf und erbot sich, seine Tochter zu heilen. Der Baron sagte zu ihm: »Mein Freund, wenn Ihr meine Tochter heilen könnt, so gebe ich sie Euch zur Frau.« Da erbot sich La Ramée, sie zu heilen, aber unter der Bedingung, dass er im Zimmer des jungen Mädchens schlafen dürfe. Der Herr wusste, dass ihre Krankheit hoffnungslos war, und so war es ihm gleichgültig. Am ersten Abend, Schlag Mitternacht, entzündete La Ramée eine Kerze, hob den Fuß des Bettes und die Steinfließen, auf denen dieser geruht hatte, in die Höhe, fand die Kröte und warf sie zum Fenster hinaus. Am andern Morgen ging es dem Mädchen ein wenig besser. Der Vater war recht froh darüber. La Ramée setzte sein Werk fort, warf am zweiten Abend die zweite Kröte hinaus und am dritten die dritte. Am vierten Tage war das junge Mädchen vollkommen geheilt. Nun musste man über die Heirat reden. Da das junge Mädchen noch etwas schwach war, verschob man die Hochzeit um einen Monat.
Im Verlaufe dieses Monats stellte sich ein Herr bei dem jungen Mädchen ein, den dieses fast vorgezogen hätte. Aber La Ramée hatte sie gerettet und der Vater hatte sie ihm versprochen. So war sie genötigt, sich mit La Ramée zu verheiraten. Nun weiter! Der Tag der Hochzeit war also gekommen. Der Herr, der das junge Mädchen häufig besuchte, suchte La Ramée auf und sagte zu ihm: »Ich wette, La Ramée, dass du die erste Nacht bei deiner Frau schläfst, ohne mit ihr zu reden.« »Oh,« sagte La Ramée, »ich wette einhunderttausend Franken mit dir!« Da sprach der andere zu ihm: »Ich gebe dir das Geld, wenn du die ganze Nacht kein Wort redest.« »Gut, einverstanden!« erwiderte La Ramée. Die Hochzeitsnacht kam, La Ramée und seine Frau gingen schlafen, und wirklich hat er die ganze Nacht kein Wort mit ihr geredet. Am andern Morgen suchte die junge Frau ihren Vater auf: »Was soll ich mit dem Alten machen, den du mir gegeben hast? Das ist ja ein alter Holzklotz! Meiner Treu,« sagte sie, »ich mag ihn nicht mehr!« »Ah, bah!« sagte der Vater zu ihr, »vielleicht war er müde.« »Ach,« entgegnete sie, »ich will ihn überhaupt nicht mehr. Mir ist der andere lieber,« sagte sie, »der ist wenigstens jünger.« Also haben sie sich scheiden lassen, und La Ramée wurde aus dem Schloss gejagt.
La Ramée ging ganz trostlos von dannen. Auf dem Wege traf er eine Maus. Die Maus sprach zu ihm: »Wohin gehst du, La Ramée?« »Ach,« sagte er, »sprich nicht davon! Gestern Abend war ich Baron, heute früh bin ich gar nichts mehr.« »Soll ich mit dir gehen?« »Wenn du willst.« »Ach, aber du gehst zu rasch!« Er sagte: »Steige in meine Tasche, ich will dich tragen.« Später traf es sich, dass er einen Mistkäfer fand. »Wohin gehst du, La Ramée?« »Ach,« sagte er, »Ihr werdet mit der Zeit langweilig. Folge mir, dann wirst du es sehen!« »Gut,« erwiderte jener, »aber du gehst zu rasch, ich kann dir nicht nachkommen.« »Steig in meine Tasche,« sagte er, »ich will dich tragen.« La Ramée geht weiter. Er bleibt ungefähr eine Woche im Nachbardorf.
Nach Verlauf von acht Tagen erfährt er, dass die Tochter des Barons sich mit jenem Individuum verheiraten wolle, welches mit La Ramée um einhunderttausend Franken gewettet hatte. Die Maus sagte zu ihm: »Sprich kein Wort, La Ramée, du sollst sie trotzdem haben. Wir sind unser zwei, keine Angst! Man soll dir alsbald deinen Baronstitel wiedergeben.« Wirklich wanderte La Ramée am Hochzeitstage um das Schloss herum. Die Brautnacht kam. Der Mistkäfer und die Maus setzten sich ans Kopfende des Ehebettes. Als die jungen Brautleute kamen, um sich niederzulegen, kroch der Mistkäfer dem Gatten in den Hintern, ohne dass dieser etwas merkte. Als er darin war, begann er zu arbeiten. Sobald sie sich niedergelegt hatten, tauchte die Maus ihren Schwanz in den Senf und strich ihn unter der Nase des Gatten her, das machte ihn niesen. Auf der anderen Seite arbeitete der Mistkäfer, und davon bekam er die Kolik. Er ließ etwas in das Hemd seiner Gattin fahren. Am andern Morgen stand sie ganz umgewandelt auf. »Ach,« sagte sie, »lieber Vater, da war mir mein alter Holzklotz doch lieber. Wenigstens ist er nicht so schmutzig wie dieser.« »Ah, bah!« sagte der, »mein Kind, er war wohl unpässlich. Am Abend einer Hochzeit kann einem leicht unwohl sein.« »Nun, schließlich will ich mich noch die nächste Nacht gedulden, aber wenn er es dann ebenso macht, so werde ich ihn verlassen.«
Der Mistkäfer und die Maus suchten wieder La Ramée auf und sagten zu ihm: »Auf! Sprich kein Wort! Wir haben ihm einen hübschen Streich gespielt!« Sie sagten weiterhin: »Heute wird er vorsichtiger sein, aber wir werden versuchen, früher hinzugehen.« Wirklich kamen sie schon während des Abendessens; der Mistkäfer schleicht sich unter den Tisch und begibt sich dahin, wo er schon einmal war. Als die Eheleute sich niederlegen wollten, fühlte sich der Herr noch nicht ganz wohl, und aus Furcht, es könnte ihm wieder gerade so gehen, wie das erste Mal, steckte er sich einen Pfropfen ein, der mit einem Bindfaden wohl befestigt war. Endlich, als sie sich niedergelegt hatten, kriecht die Maus ins Bett und nagt ganz leise die Bindfäden durch. Auch der Mistkäfer hatte sein Werk begonnen. Die Maus taucht den Schwanz in Senf und streicht ihn wieder unter der Nase des Gatten her; dieser muss wieder niesen. Er lässt etwas fahren, und der Pfropfen fliegt der jungen Frau auf den Leib. Sie hat geschrien und geglaubt, sie sei tot. Sie steht auf. »Oh!« sagte sie, »um keinen Preis will ich so etwas noch einmal erleben, ich mag ihn nicht mehr, er würde mich töten! Da ist mir mein alter La Ramée doch lieber!« Die beiden kleinen Tiere suchten La Ramée wieder auf und legten ihm Rechenschaft über ihre Taten ab. Am folgenden Tage stellte ich La Ramée im Schlosse ein. Der Baron sagte zu ihm: »Ihr werdet Eure Stelle wieder einnehmen, La Ramée!« Da haben sie sich wieder verheiratet. Ich war bei der Hochzeit zugegen, ich habe einen guten Schluck getrunken und bin gerade von dort zurückgekommen.