Sigurd

Märchen aus Island

Vier Töchter - und alle gleichschön - hatte ein König. Am meisten liebte er jedoch die jüngste. Eines Tages ritt der König mit Gefolge auf die Jagd. Man stieß auf eine Hirschkuh und verfolgte sie. Ein großer Teil des Tages verging so, und da der König das schnellste Pferd hatte, ließ er allmählich seine Leute zurück.

Er verfolgte das Tier ganz allein, bis er tief in den Wald hineingekommen war. Plötzlich verlor er das Wild aber aus den Augen und streifte verirrt im Wald umher. Es wurde Abend, und der König entdeckte endlich eine Hütte.

Als er eintrat, sah er ein Zimmer, in dem sich Tisch mit Licht, Speise und Wein befand. Auch ein gemachtes Bett war darin, aber von einem Menschen war keine Spur. Ein rotbrauner Hund lag allerdings auf dem Boden, der rührte sich aber nicht.

Nachdem der König sein Pferd im Stall versorgt hatte, wartete er auf den Besitzer des Hauses. Gegen Mitternacht war noch immer niemand erschienen, so dass der König es sich bequem machte, aß und sogleich einschlief. Er erwachte erst am helllichten Tag, stand auf und sah wieder keinen Menschen. Wohl war aber wieder Speise und Trank auf dem Tisch. Und der rotbraune Hund lag auf dem Boden. Der König sah nach seinem Pferd, frühstückte dann und ritt davon.

Nach einer Strecke gelangte er zu einem kleinen Hügel. Hier kam ihm der rotbraune Hund nachgelaufen, holte ihn ein und sah böse aus. Der Hund sagte, dass der König sehr undankbar sei. Er habe ihn beherbergt, ihm Speise, Wein und Bett sowie seinem Pferd Futter gegeben; der König sei jedoch ohne Dank fortgeritten. »Nun werde ich dich auf der Stelle zerreißen«, drohte er, »es sei denn, du gibst mir das erste, was dir auf dem Heimweg begegnet. « Der König, ganz erschrocken, versprach dies, um sein

Leben zu retten. Nach drei Tagen wollte der Hund seinen Lohn abholen. Darauf ritt der König unbehelligt weiter. Unterdessen waren am Königshof alle besorgt gewesen, als der König am Abend nicht nach Hause zurückkehrte. Am meisten war seine jüngste Tochter besorgt. Sie bestieg am Morgen einen Turm in der Stadt und spähte nach allen Seiten aus, ob sie ihren Vater nicht kommen sehe. Als sie ihn endlich heranreiten sah, lief sie ihm entgegen, um ihn zärtlich willkommen zu heißen.

Der König wurde sehr betrübt, als ihm seine Tochter entgegenkam. Sie gingen so zusammen in die Königshalle, wo alles über seine Rückkehr erfreut war. Als der König sich zu Tisch gesetzt hatte, erzählte er seine Erlebnisse und welches Versprechen er gegeben habe. Doch fügte er hinzu: »Niemals werde ich mich bewegen lassen, meine Tochter herzugeben. «

Als drei Tage um waren, wurde an. die Tür der Halle geklopft. Es wurde ein Mann zur Tür geschickt, und als er wieder zurückkam, meldete er, er habe niemand vor der Tür gesehen als einen rotbraunen Hund. Nun wusste man, was dies zu bedeuten habe. Die Tochter wollte schon weinend hinausgehen, aber der König sagte, dies solle niemals geschehen. Eine Magd wurde zur Tür geschickt. Als sie vor dem Hund stand, fragte der: »Bist du zu mir geschickt? «

Die Magd schwieg, der Hund befahl ihr, auf seinen Rücken zu steigen und lief mit ihr davon in den Wald. Bei einem Hügel blieb er stehen und ließ sie absteigen. Dann fragte er: »Wie spät mag es jetzt wohl sein? « Die Magd erwiderte, das wisse sie nicht, aber es dürfte ungefähr die Zeit sein, wo sie die Halle des Königs auszukehren pflegte.

»Bist du also nicht die Königstochter? « fragte er. »Nein«, entgegnete das Mädchen. Da zerriss der Hund sie in Stücke.

Am folgenden Tag wurde abermals an die Tür der Halle geklopft, und ein Mann ging nachsehen. Er meldete den rotbraunen Hund, der sehr böse aussehe. Da wussten die Leute, was dies zu bedeuten habe.

Abermals wurde eine Dienerin hinausgeschickt. Als sie zu dem Hund kam, fragte dieser, ob sie zu ihm geschickt sei: sie schwieg ängstlich. Da hieß der Rotbraune sie auf seine: Rücken steigen und lief mit ihr davon. Als er zu dem Hügel kam, schüttelte er sie ab und fragte sie, wie spät es jetzt wohl sein könne.

Die Magd antwortete, dass es wohl die Zeit sein dürfte, wo sie des Königs Tisch zu decken pflege.

»So bist du also nicht die Tochter des Königs? «

»Nein.«

Da zerriss der Hund sie in Stücke.

Ein Tag verging. Abends hörte man wieder das Klopfen. Diesmal ließ sich die Königstochter nicht mehr zurückhalten. Sie sagte, ihr sehnlichster Wunsch sei es, das Leben des Vaters zu retten. Sie ging hinaus. Als sie vor die Tür kam. fragte der Hund: »Bist du zu mir geschickt? « Sie antwortete leise: »Ja. «

Sie musste sich auf seinen Rücken setzen. Als sie in den Wald bei dem Hügel vorbeikamen, schüttelte er sie ab und fragte: »Wie spät mag es jetzt wohl sein? «

Sie antwortete, dass es jetzt wohl die Zeit sein dürfte, wo sie zu ihrem Vater zu gehen pflegte. »So bist du also die Königstochter? « »Ja.«

»Dann steig' wieder auf meinen Rücken, wir wollen ein Stück des Wegs weiter zurücklegen. «

Bei einem Haus hielten sie und traten ein. »Hier sollst du von jetzt an wohnen«, sagte er. In dem Zimmer standen ein Tisch, ein Bett und ein Stuhl, auch sonst war alles vorhanden, was sie brauchte.

So verging einige Zeit. Niemals sah sie einen Menschen. In der Nacht jedoch schlief jedes Mal ein Mann bei ihr im Bett. Der rotbraune Hund hielt sich stets des Morgens und Abends im Haus auf; während des Tages aber war er oft fort.

Die Königstochter wurde schwanger. Da sagte einmal der Hund zu ihr, dass wohl bald die Stunde nahe, wo ihr Kind zur Welt käme, und dass man ihr dieses Kind wegnehmen werde. Er bat sie auch, sich vom Schmerz nicht überwältigen zu lassen, denn es sei für sie von großer Wichtigkeit. »Solltest du deine Tränen aber nicht zurückhalten lassen, so gebe ich dir dieses Tuch. Darin weine, wenn du weinen musst. «

Die Königstochter gebar ein sehr schönes Mädchen, sie wusch es, wickelte und streichelte es und legte es dann ins Bett. Während sie noch über das Kind gebeugt war, zog ein Schatten am Fenster des Hauses vorüber, und in demselben Augenblick kam ein Geier in das Zimmer geflogen, nahm das Neugeborene in seine Klauen und flog davon. Dieser Verlust ging der Königstochter wohl sehr zu Herzen, aber sie weinte nicht. Da kam der Hund zu ihr hinein und war sehr freundlich. Er gab ihr einen goldenen Kamm und sagte, dass sie ihn als Belohnung für ihre Standhaftigkeit haben sollte.

Wieder verstrich die Zeit. Da erzählte ihr der Hund einmal, dass jetzt ein Königssohn zu ihrem Vater gekommen sei und um ihre älteste Schwester angehalten habe. Die Hochzeit stünde bald bevor. Er wollte auch wissen, ob sie dieser Hochzeit beiwohnen möchte, und sie bejahte. Er trug sie deshalb ein Stück weit und zeigte ihr den Weg zur Königsallee. Zugleich gab er ihr zwei schöne Frauenkleider mit, das eine sollte ihre Schwester tragen, damit sie schön sei an ihrem Hochzeitstag. Das andere sollte ihr selbst gehören. Beim Abschied bat er sie noch, nichts von ihrem Schicksal und den Lebensverhältnissen zu erzählen, nicht länger als drei Tage auszubleiben und nach Verlauf dieser Zeit wieder zum Hügel zurückzukommen.

Die Königstochter kam heim und wurde mit großem Jubel empfangen. Sie wohnte der Hochzeit als Ehrengast bei, nachdem sie ihr das schöne Kleid anprobiert hatte, das große Bewunderung erregte. Von ihrem Schicksal wollte sie durchaus nichts erzählen, so sehr sie auch darüber befragt wurde. Sie sagte nur, es gehe ihr gut. Am dritten Tag kehrte sie wieder zum Hügel zurück, wo der Hund schon wartete und sie in das Haus zurücktrug, wo sie mit ihm lebte.

Sie wurde zum zweiten Mal schwanger. Da sagte der Braune wieder, dass ihr das Kind weggenommen werden würde. »Behalte das geschenkte Tuch bei dir, denn der Verlust des zweiten Kindes wird dir noch viel mehr zu Herzen gehen, als der des Erstgeborenen«, sagte er.

Abermals wurde ein Mädchen, genauso schön wie das zuvor, geboren. Sie wusch es, wickelte es, legte es ins Bett und beugte sich zärtlich darüber. In diesem Augenblick sah sie den Schatten draußen. Sie wusste, was da vorbeiglitt, kehrte ihr Gesicht der Wand zu und verharrte so ängstlich und mutig zugleich.

Der Geier kam, ergriff das Kind und flog davon. Auch jetzt weinte die Königstochter nicht.

Als der Hund kam, war er wieder sehr freundlich zu ihr und brachte einen goldenen, mit Edelsteinen besetzten Halsschmuck mit, den er ihr umlegte.

Eines Tages danach erzählte ihr der Hund, ein anderer Königssohn sei zu ihrem Vater gekommen, und er habe ihre zweite Schwester zur Frau genommen. »Willst du der Hochzeit beiwohnen? «

»Ich danke dir für die Frage. Ja, ich wäre gern dabei. « Wieder gab er ihr zwei prächtige Kleider mit, begleitete sie bis zu dem Hügel und bat sie, nicht länger als drei Tage auszubleiben und nichts preiszugeben. Wie beim ersten Mal wurde die Königstochter mit großer Freude empfangen. Sie wohnte der Hochzeit ihrer Schwester bei, erzählte aber von ihrem Schicksal nichts anderes, als dass es ihr gut gehe, und kehrte nach Verlauf von drei Tagen wieder zurück.

Als sie ein drittes Mal schwanger wurde, geschah alles wie zuvor. Diesmal gebar sie einen Knaben. Es kam der Geier, da floss ihr eine Träne aus den Augen in das bereitgehaltene Tuch, das sie in den Händen wrang. Der Hund kam zu ihr hinein und war zwar freundlich, aber nicht ganz so wie vorher. Er schenkte ihr dann einen Spiegel in goldenem Rahmen. »Dies soll eine Belohnung für deine Standhaftigkeit sein«, bemerkte er.

Die dritte Schwester der Königstochter heiratete, und sie wohnte den Feierlichkeiten bei. Auf dem Rückweg begleitete sie ihre Mutter, die Königin, ein Stück des Weges und drang in sie, dass sie ihr doch sagen möge, in welchen Verhältnissen sie eigentlich lebe.

Die Tochter erzählte ihr nichts anderes, als dass in jeder Nacht ein Mann, den sie bisher nie richtig gesehen habe, bei ihr liege. Da gab ihr die Königin einen Stein und sagte, sie solle den, wenn der Mann, der bei ihr liege, eingeschlafen sei, an dessen Gesicht vorübergleiten lassen, dann werde sie ihn sehen können.

In der folgenden Nacht, als der Mann eingeschlafen war, ließ sie den Stein über ihn hingleiten und sah, dass er jung und schön war. Im gleichen Augenblick erwachte er und war darüber sehr betrübt. »Dies ist ein großes Unglück«, sagte er. »Lange wird es dauern, bis wir von den schlimmen Folgen wieder befreit sein werden. Wir müssen uns nun trennen, und wer weiß - vielleicht sehen wir uns nie wieder. «

Sie war erschrocken und auch traurig über seine Worte. Da erzählte er, dass er Sigurd heiße; seine Mutter sei gestorben und sein Vater habe lange um sie getrauert. Einmal sei er mit seinem Vater in den Wald gegangen, da hätten sie ein seidenes Zelt gesehen, in dem zwei Frauen saßen. Beide waren sehr schön gewesen. Sein Vater fragte sie über ihre Verhältnisse aus, und die ältere der beiden erzählte, sie sei die Frau des Königs und das jüngere Weib ihre Tochter. Feinde hätten das Reich verheert, der König sei in einer großen Schlacht gefallen, sie aber habe sich mit ihrer Tochter geflüchtet, und so seien sie bis hierhergekommen. »Mein Vater«, erzählte er weiter, »hatte Mitleid mit ihnen und lud sie ein, in seine Halle zu kommen. Die ältere der beiden Frauen hat er bald geheiratet. Ich selbst habe meinen Widerwillen gegen meine Stiefmutter nie ganz verwinden können, und auch gegen ihre Tochter nicht, die ich hätte heiraten sollen. «

»Und wie kamst du ins Unglück? « fragte atemlos die Königstochter.

»Nun - zu eben jener Zeit zog mein Vater fort, um in seinen anderen Ländern nach dem Rechten zu sehen. Da kam meine Stiefmutter zu mir und verlangte mit Nachdruck, ich solle ihre Tochter heiraten. Ich weigerte mich. Darüber geriet sie in so großen Zorn, dass sie mich verzauberte, so dass ich in den Wald vertrieben wurde und mich jeden Tag in einen rotbraunen Hund verwandelte. Zehn Jahre lang \ soll diese Verzauberung währen. Danach muss ich nach Hause und die Tochter der Stiefmutter heiraten - es sei denn, ich bringe eine der schönsten Königstöchter der Welt dazu, bei mir zu bleiben, drei Kinder zu bekommen, ohne dass sie diese behalten darf, und auf meinen Anblick als Mann zu verzichten. Noch einen Moment hätten wir aushalten müssen, dann wären die zehn Jahre vergangen-jetzt aber ist alles verspielt. «

»Und gibt es keinen anderen Ausweg? « fragte sie leise und verschüchtert.

»Ich habe drei Onkel väterlicherseits«, erwiderte er, »die alle meinetwegen Heim, Reichtum und Würde geopfert haben. Zwei von ihnen sind hierher gezogen und wohnen in ärmlichen Hütten in der Nähe, um meiner Stiefmutter zu entkommen. Sie gaben mir alles, was sie hatten, um mir die Verzauberung zu erleichtern. Sie werden auch dir nun helfen, die nächste Zeit zu überstehen. Gehe längs des Bachs nach Osten, dort kommst du an die Hütte des ersten Onkels. Und hüte sorgfältig das Tuch, das ich dir gab. « Er gab ihr daraufhin einen Sack voll Gold und Diamanten und bat sie, diesen Schatz mit seinen Onkeln zu teilen, denn die seien nun sehr arm.

Kurz darauf verschwand er. Sie rief noch: »Und du? Was wird dir geschehen? « - Aber er gab keine Antwort mehr.

Schließlich traf sie alle Vorbereitungen, um fortzuziehen. Sie ging in die angegebene Richtung und kam am Abend zu der einen Hütte. Ein ärmlich gekleideter Mann, mit einem tiefsitzenden Hut auf dem Kopf, stand vor der Tür. Sie grüßte ihn, er erwiderte den Gruß mit kummervoller Miene. Sie bat ihn um Nachtherberge, er antwortete jedoch, dass er nicht gern Gäste habe; auch würde ihr Kommen kaum Glück bringen. Sie bat ihn jedoch umso inständiger, gab ihm viel Gold aus dem Sack und heiterte ihn endlich auf, so dass sie eintreten konnte. Später erzählte sie ihm alles, was sich zugetragen hatte, und bat ihn um seine Hilfe, damit sie den Königssohn wiederbekommen könne. Er meinte aber, dazu sei nur der Bruder in der Lage, der an einem Bergabhang, unweit von der Hütte, wohne. »Zeigst du mir den Weg dorthin? « »Ja, morgen früh.«

Am nächsten Morgen verließ sie die Hütte und ging bis zu dem Bergabhang, wo sie an eine Behausung anklopfte. Ein alter Mann mit strengen Gesichtszügen und hässlichem Gesicht öffnete ihr. Er trug einen schwarzen Mantel und hatte einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf. Die Königstochter bat ihn, hier über Nacht bleiben zu dürfen. Er antwortete aber, dem Mann, der ihr Obdach gewähre, käme gewiss wenig Nutzen zu. Sie bat ihn jedoch inständig, sie schenkte ihm darüber hinaus eine große Menge von dem Gold, und da wurde er freundlicher und forderte sie auf, einzutreten.

Drinnen saß eine Frau auf einer Bank. In ihrem Schoß lag ein Wickelkind, während zwei andere Kinder am Boden spielten. Die Frau war sehr gesprächig, hieß die Eintretende sich hinzusetzen und sich wohl zu fühlen. Die Kinder waren sehr schön anzusehen.

Voller Kummer erzählte die Frau, der Knabe, den sie auf dem Schoß trage, habe den grauen Star, und sie wissen keine Hilfe. Die Königstochter meinte, das sei ein großer Schade für ein so hübsches Kind. So redeten sie noch eine Weile, bis die Frau aufstand und ein Nachtlager bereitete. Als die Königstochter mit den Kindern allein war, kam ihr der Gedanke, ob nicht vielleicht ihre Träne, die sie in dem Tuch bewahrte, die Eigenschaft habe, von anderen Menschen eine Augenkrankheit beseitigen zu können. Sie löste den Knoten des Tuchs auf, strich den Zipfel über das Auge des Kindes, und sogleich war der Star verschwunden.

Als die Frau wieder zurückkam und sah, was sich ereignet hatte, wurde sie sehr glücklich und dankte der Königstochter überschwänglich für ihre Tat. Die Königstochter blieb über Nacht und erzählte dabei ihre ganze Lebens- und Leidensgeschichte. Auch der Alte wurde dabei ganz sanft und sagte, ihre Sorgen gingen ihm sehr zu Herzen, aber er sehe kaum Änderung, denn am nächsten Tag würde der Königssohn mit der Tochter der Stiefmutter Hochzeit halten. Der Weg dahin aber sei lang und führe um ein großes Gebirge. Würde sie diesen Weg gehen, so käme sie zu spät. Es gebe zwar einen kürzeren Weg über das Gebirge, auf dem käme man an einem Tag dorthin; aber der sei kaum gangbar wegen der Zauberei der Königin, die ihre Ankunft zu verzögern trachte. Er wolle es aber doch versuchen, ihr zu helfen, damit sie auf dem kürzesten Weg über das Gebirge käme.

Bevor sie sich anderntags auf den Weg machte, gab er ihr einen Stock, der am unteren Ende mit einer Eisenspitze versehen war, damit sie sicher den steilen Weg hinaufschraubten konnte, der außerdem so glatt wie ein Spiegel war. Er wickelte auch ein Tuch um ihren Kopf, damit sie von den Wundern, die ihr in der Folge der Zauberei begegnen würden, nichts hören und nicht verwirrt werden könne.

»Sieh niemals zurück«, sagte er außerdem^ »Kommst du auf die andere Seite des Gebirges, so kannst du bei einem Freund einkehren, der dich bis zur Königsburg führen wird. Ich will Sorge tragen, dass die Königin dich nicht erkennt. «

»Ich danke dir. Eines Tages werde ich es lohnen können«, sagte sie zum Abschied.

Sie ging nun und sah nicht zurück. Von dem schrecklichen Geheul, das sie hörte, ließ sie sich nicht beirren. Dabei leistete ihr das Tuch die besten Dienste. Abends kam sie zu der Hütte, die hübsch und sauber war. Freundlich wurde sie aufgenommen und beherbergt. Sie bat den Mann, sie zu begleiten. Das sei eine ganz leichte Sache, meinte er, denn er gehe selbst dahin, um der Hochzeit des Königssohns beizuwohnen.

Als sie in die Halle des Königs kamen, gab es hier viel Pracht und Herrlichkeit aus Anlass der Hochzeit. Die Königstochter ging zur Tür und sah den König und die Königin auf dem einen, den Königssohn mit der Tochter seiner Stiefmutter auf dem anderen Ehrenplatz sitzen. Alle zeigten fröhliche Mienen, nur nicht der Königssohn, auf dessen Gesicht man den Kummer lesen konnte. Niemand erkannte die Königstochter, nicht einmal der Königssohn selbst. Sie stand dort den ganzen Tag und sah den Festlichkeiten zu, bis das Brautpaar in die Schlafkammer geführt wurde. Da bemächtigte sich ihrer der große Kummer, und sie wollte schon verzweifeln, als ihr der Gedanke kam, dass sie vielleicht niemals von ihren Kleinodien besseren Gebrauch machen könnte als gerade jetzt. Es war ein heller Mondscheinabend, und sie ging zum Fenster der Schlafkammer des Brautpaares und begann hier, sich mit dem goldenen Kamm das Haar zu kämmen. Die Blicke der Braut fielen alsbald auf das Fenster, wo sie stand, und als sie den goldenen Kamm sah, bat sie die Königstochter, ihn gegen ihren umzutauschen, denn sie sah, dass der andere viel wertvoller war. Die Königstochter aber weigerte sich. »Verkaufst du ihn mir dann? « »Auch das nicht.«

»Ist er für gar keinen Preis zu haben? «

»Nur für einen Preis.«

»Und?«

»Du lässt mich eine Nacht lang bei deinem Bräutigam schlafen. «

Nach langem Zögern stimmte die andere zu. Die Braut gab dem Königssohn einen Schlaftrunk und ließ dann die Königstochter zu ihm hineinkommen. Sie blieb die ganze Nacht hindurch bei ihm, war aber nicht imstande, ihn aus dem Schlaf zu wecken. Er rührte sich nicht, so sehr sie auch flehte, und als der Morgen kam, trat die Braut ein und forderte sie auf, sich zu entfernen. Die Königstochter war nun den ganzen Tag hindurch noch bekümmerter als früher, hielt sich aber doch häufig in der Halle auf, ohne erkannt zu werden. Als das Brautpaar an diesem Abend wieder in seine Schlafkammer ging, machte sie einen Versuch, die Braut mit ihrem Halsband zu locken - und der Handel zwischen ihnen wurde noch einmal abgeschlossen.

Nun hatte sie sich von zwei Kleinodien getrennt, konnte aber doch den Königssohn in der Nacht nicht aufwecken. Der Kummer lastete schwer auf ihrem Herzen, und sie klagte bitter über ihr Missgeschick. Am Morgen musste sie den Königssohn unverrichteter Dinge wieder verlassen. Die Braut trat zu ihm ein, und wenig später gingen sie zusammen in die Halle. An diesem Tag war es eine große Qual für die Königstochter, alles anzusehen, was vorging-

Im Laufe des Tages kam der dritte Onkel des Königssohnes, um ihn allein zu sprechen. Er wohnte in der Stadt und zwar oben bei der Burg und hatte sein Schlafzimmer dicht neben

dem des Brautpaares. Er fragte seinen Neffen, wer die Frau sei, die die Nacht über bei ihm wache und so laute Klagen ausstoße; es sei etwas ungewöhnliches an der Sache. Der Königssohn antwortete, er wisse von keiner anderen Frau als seiner eigenen. Der Onkel wollte wissen, warum sie so laut klage. Auch davon wusste der Königssohn nichts. Warum er so fest schlafe? Ob ihm seine Frau einen Trunk gäbe? »Ja, so ist es. «

»Dann rate ich dir, den Trunk einmal wegzugießen. Es lohnt sich für dich. «

Der Tag neigte sich zum Ende, und es wurde Abend. Die Königstochter war gebeugt vor Kummer, obwohl sie ihn gut zu verbergen trachtete. Als das Brautpaar wieder in seinem Schlafzimmer stand, lockte sie wieder und hielt den goldenen Spiegel in der Hand. Wieder war das Begehren der Braut so groß, und sie wurden handelseins. Der Königssohn verschüttete den Schlaftrunk und tat dann, als ob er einschliefe. Die Königstochter stieg zu ihm ins Bett und versuchte ihn zu wecken, aber er stellte sich immer noch, als ob er schlafe. Da zählte sie ihm alle ihre Leiden auf und klagte bitter. Sie bat ihn, er möge sich doch an ihr Zusammenleben erinnern und sie erhören. Sie habe schon alle Kleinodien weggegeben, um mit ihm zusammenzukommen.

Durch die Zauberei seiner Stiefmutter war es dem Königssohn, als ob er von all diesen Begebenheiten nur träumte, endlich aber erkannte er doch die Königstochter, und die Freude war bei beiden unbeschreiblich. Er tröstete sie, so gut er konnte, und sagte, dass ihre Leiden nun bald ein Ende nehmen würden. »Geh' nur, wenn die Braut am Morgen wiederkommt, zum Haus meines Onkels«, sagte er, »warte dort. «

»Und du? « fragte sie.

»Ich werde mich schlafend und unwissend stellen. « Am Morgen trat die Braut ins Schlafzimmer und jagte die Königstochter fort. Sie weckte ihren Bräutigam, und sie gingen zusammen hinunter.

Als Freude und Munterkeit an diesem Tag den Höhepunkt erreicht hatten, alles am Tisch saß, aß und trank, der König und die Königin auf dem einen Ehrenplatz, das Brautpaar

auf dem anderen, kamen drei Männer in die Halle. Das waren die Brüder des Königs. Der eine trug zwei kleine Mädchen auf dem einen Arm und führte mit der anderen Hand eine Frau, die ebenfalls ein Kleinkind auf dem Arm trug. Die anderen beiden Brüder hielten jeder einen Holzstock in der Hand. Sie stellten sich vor dem Platz des Königssohnes auf, und der, an dessen Hand die Frau ging, fragte den Königssohn: »Kennst du die Frau und die drei Kinder nicht? «

»Ja«, antwortete dieser, »ich kenne sie. « Da wechselten Mutter und Tochter die Farbe, und sie wurden plötzlich ungeheuer hässlich und alt. Sie wollten sprechen, aber nur ein Lallen kam aus ihrem Mund. Die beiden Brüder sprangen auf sie zu und stießen ihnen die Pflöcke in den aufgerissenen Mund. Sechzehn Männer sprangen von allen Seiten herbei, stürzten sich zu je acht auf die grässlichen Wesen und fesselten sie unter Toben und Kreischen.

Der König war erzürnt aufgesprungen. Als er aber sah, wie sich die Frauen veränderten, erfüllte ihn der Anblick mit Entsetzen, und er wandte sich ab. Sein Sohn und die Königstochter traten an seine Seite, und sie umarmten sich innig. Sogleich wurde nach den Eltern der neuen Braut geschickt und sodann unter Becherklang und Musik die Hochzeit gefeiert.