Das Marien-Bildchen

Aus: Aachens Sagen und Legenden gesammelt von Dr. Joseph Müller, Aachen 1858 

Als Bürger der Stadt Aachen möchte ich mir erlauben, auch die Sagen und Legenden von Karl dem Großen hier zu veröffentlichen, in denen vom Heilen die Rede ist. Natürlich sind das keine Märchen. Alle Märchenfreunde mögen es mir nachsehen.

Oben in der Roßstraße steht ein niedliches Kapellchen, welches seine Entstehung bis in die ältesten Zeiten der Stadt hinauf datiert. In demselben befindet sich ein wundertätiges Bild der Gottesmutter und wurde das Kirchlein daher von urdenklichen Zeiten bis auf den heutigen Tag Marien-Bildchen genannt. Als im Jahre des Heils 1656, am 2. Mai, die ganze Stadt Aachen durch eine furchtbare Feuersbrunst in einen Aschenhaufen verwandelt wurde, blieb dieses Kapellchen ringsum von brennenden und zusammenstürzenden Häusern umgeben, mitten in den Flammen unversehrt stehen. Schon vor dieser, besonders aber seit jener Zeit sah man bei Erdbeben, bei herrschenden Seuchen, bei Kinder-Krankheiten und andern Kalamitäten, welche die Stadt heimsuchten, dies Kirchlein mit Gläubigen erfüllt und von Schaaren derselben umlagert, welche zu Maria flehen, dass sie durch ihre Fürbitte bei Gott, die Leiden abwenden möge. So sahen wir es noch beim ersten Ausbruch der Cholera in Aachen im Jahre 1832.
Besonders aber in Kinder-Krankheiten nehmen Eltern und Geschwister ihre Zuflucht zu Marien-Bildchen. Wenn der Arzt nicht mehr zu raten und zu helfen weiß und den Eltern die drohende Gefahr, worin das Kind schwebt, nicht länger verbergen kann, dann suchen sie überirdische Hilfe. Sie schicken drei Kinder der Nachbarschaft zwischen sieben und neun Jahre alt, jedes mit einer Kerze versehen nach Marien-Bildchen. Vom Hause aus, wo das kranke Kindchen liegt, ziehen die kleinen Pilger unter fortwährendem Gebet nach dem Kapellchen. Hier angelangt zünden sie die Kerzchen an, stellen sie auf einen Leuchter hin, knien dort nieder und beten noch eine Weile für die Genesung des kranken Kindchens. Die Kinder schauen dabei mit gespannter Aufmerksamkeit und mit beklommenen Herzen auf den Schein ihrer Kerzchen, denn es herrscht dabei der kindlich fromme Glauben, dass das Schwesterchen oder Brüderchen genesen werde, wenn die Kerzchen mit hellem Schein brennen, dass sie hingegen sterben werden, wenn die Flämmchen matt und trübe sind. Betend, wie sie zum Kapellchen hinzogen, kehren die Kinder von dort nach Hause zurück, wo man ihrer sehnsüchtig harret. Hier verkünden sie nun voll Zuversicht und freudigen Herzens, dass das kranke Kindlein genesen wird, denn die Kerzlein brannten hell und klar, oder sie teilen weinend und schluchzend ihre Befürchtungen mit, denn ach! Die Kerzlein brannten matt und trübe.