Rahman und Schahbas

Märchen aus Bosnien-Herzegowina

Es war einmal ein Sultan, der im Alter erblindete. Sein Leid war groß, doch niemand konnte ihm das Augenlicht wiederschenken. Des Nachts träumte er und vernahm eine Stimme, die zu ihm sprach:
»Fang den Fischkönig im Meer; du wirst ihn an der Krone erkennen, die er auf dem Kopf trägt, sowie an den goldenen und schwarzen Streifen am Körper. Schneide ihn auf und reibe mit dem Tran, den du in ihm findest, deine Augen ein; hernach wirst du wieder sehend. «
Als der Sultan aufwachte, rief er seinen Siegelbewahrer und seinen Sohn zu sich. Er erzählte ihnen, was er geträumt hatte. Wer sollte schon ausziehen, um den Fischkönig zu fangen, wenn nicht sein Siegelbewahrer und sein eigener Sohn? So gingen sie und gingen und kamen schließlich ans Meer. Drei Tage lang fischten sie, ohne etwas zu fangen. Am vierten Tage vor Akscham zogen sie einen Fisch aus dem Wasser, der eine Krone auf dem Kopfe sowie goldene und schwarze Streifen am Körper hatte. Sogleich erkannten sie den Fischkönig. Sie brachten ihn in ihr Zelt und ließen sich auf ihrem Lager nieder: der Sultanssohn legte sich in die eine Hälfte des Zeltes, der Siegelbewahrer des Sultans dagegen in die andere. Der Sultanssohn hatte den Fischkönig bei sich und schlief bald ein. Als es um Mitternacht war, vernahm er eine Stimme:
»Sultanssohn! Fürwahr, ich beschwöre dich bei beiden Welten. Lass mich los! Ich will dir immer zu Hilfe sein! « — »Wie soll ich dich freilassen«, entgegnete der Sultanssohn, »jetzt, da wir dich kaum gefangen haben, auf dass du meinem Vater das Augenlicht wiederschenkst? « Und wieder sprach das Fischlein und bat ihn:
Lass mich frei, Sultanssohn, so du einen Herrgott kennst. Ich will dir stets zu Hilfe sein! «
Dem Sultanssohn tat der Fisch leid. Er nahm ihn und warf ihn wieder ins Meer.
Am anderen Tag, bei Morgengrauen, erhob sich der Siegelbewahrer des Sultans und sah sich nach dem Fischkönig um. Der Sultanssohn jedoch hatte ihn nicht mehr bei sich. »Wo ist der Fisch, bei deinem Herrgott? « schrie der Siegelbewahrer.
»Fürwahr, er war doch hier und ist wohl heute Nacht entwichen«, entgegnete der Sultanssohn. Jedoch der Siegelbewahrer des Sultans glaubte seinem Freund nicht, sondern ließ dem Sultan die Kunde überbringen, sein Sohn habe den Fisch¬könig wieder freigelassen. Danach brachen beide auf nach Stambul. Nachdem sie schon drei Nachtquartiere hinter sich gelassen hatten, wurde es dem Sultanssohn klar, dass der Sultan ihm das Leben nicht schenken würde. Daher stahl er sich nachts aus dem Zelt und floh. Er rannte und rannte und begegnete schließlich einem Mann. Sie grüßten einander. Der Sultanssohn fragte ihn, wer er sei und wohin er gehe. »Ich heiße Schahbas«, antwortete der Wanderer. »Ich bin in die Welt aufgebrochen. «
»Ich heiße Rahman-Beg, auch ich bin in die Welt gezogen«, entgegnete der Sultanssohn, denn er wollte nicht sagen, wer er war.
»Das trifft sich, da können wir, fürwahr, gemeinsam ziehen«, antwortete Schahbas. Dem Sultanssohn war dies willkommen, und so brachen sie gemeinsam auf,
Sie wanderten und wanderten, bis die Nacht sie im W7alde überraschte. »Es fügt sich so«, sprach Schahbas, »dass wir hier im Wald übernachten müssen. Ich werde mich niederlegen, und du magst wachen. « So geschah es auch. Schahbas legte sich nieder, und Rahman hielt die Wache. Der Mond leuchtete hell wie der Tag. Rahman guckte umher und bemerkte schließlich einen Hasen, der um sie herumsprang. Rahman nahm seinen Wanderstab und schlug nach dem Hasen. Der überschlug sich. Rahman schlug noch einmal und abermals zu; doch der Hase hüpfte weiter und rannte davon. Rahmann setzte hinter ihm her. So gelangte er an eine große Höhle. Der Hase sprang hinein, und im gleichen Augenblick stürzte ein Riese mit einem großen Säbel aus der Höhle heraus. Da geriet Rahman in Ängste und lief, so schnell er konnte, zurück, dorthin, wo Schahbas schlief. Er ließ sich nieder und wachte. Doch siehe da: wiederum erschien ein Hase. Er knabberte am Gras, tänzelte und hüpfte um beide herum. Abermals ergriff Rahman seinen Wanderstab und schlug nach dem Hasen. Der Hase machte sich aus dem Staub. Wieder stürzte Rahman hinterdrein. Er lief, lief und kam vor die gleiche Höhle, in die der Hase verschwand. Nunmehr folgte ihm Rahman hinterher. Drinnen erblickte er zwei riesige Helden, die dasaßen. Vor ihnen standen ein Bottich mit Wasser und eine gedeckte Tafel. Zwischen ihnen saß ein Mädchen, an dem sich zwei Augen niemals satt sehen könnten.
»Was willst du hier, du Tor? « fragte einer jener beiden Helden.
»Ich bin, wahrlich, dem Hasen gefolgt«, stammelte Rahman und schaute nicht auf die Helden, wohl aber auf das Mädchen. Weiter brachte er nichts heraus. Wie taub und stumm stand er da; so sehr hatte ihn die Schöne verzaubert. Ein Schmerz lastete auf seinem Herzen, das schier zu zerbrechen drohte. Dann sprach er: »Fürwahr, bei eurem großen Gott, wem gehört dieses Mädchen? «
»Das ist unsere Schwester. Wir behüten sie hier schon volle acht Jahre lang. «
»Donnerwetter, was für ein Mädchen habt ihr zur Schwester! Los, ihr Helden, bei eurem Glauben und eurem großen Herrgott, gebt sie mir zur Frau! «
»Wenn sie dich mag und so du sie liebst«, entgegneten die Brüder, »wir wollen es euch nicht verwehren. Doch wisse, acht Jahre lang darfst du nirgends hingehen. Du musst sie acht Jahre lang bewachen, so wie wir sie bisher behütet haben. « Rahman war dies sehr willkommen. Sogleich fragte er das Mädchen, ob sie ihn mag. Auch sie zeigte sich gnädig und war einverstanden. Da sprach Rahman: »Ich muss weg, um meinen Bruder Schahbas zu holen, der nicht weit von hier ist. « Nachdem er dies gesagt hatte, brach er auf und traf jenen noch schlafend an. » Steh auf, Bruder! « rief ihm Rahman zu. » Ich habe ein Mädchen gefunden und werde es heiraten. « Danach erzählte er ihm alles, wie und was geschehen war. Schahbas gefiel dies. Er brach auf und ging mit in die Höhle. Dort wurde gefeiert. Die Brüder gaben Rahman ihre Schwester und sprachen: »So du dich abends niederlegst, verschließe alle Türen gut und lass niemand herein, wie sehr man dich auch darum bittet und dich beschwört. «
Rahman legte sich mit seiner Hanum nieder. Um eine bestimmte Stunde in der Nacht waren Hilferufe vor ihrer Tür zu hören: »Weh! Hilfe! Hilfe! Ich muss sterben! So du einen Herrgott kennst, hilf mir! « Rahman ward tief im Herzen gerührt und öffnete die Tür. Ein Riese trat ins Zimmer, packte die junge Frau und verschwand mit ihr.
Da sprangen die Brüder auf, fassten Rahman, banden ihm die Hände und führten ihn weg, um ihn zu enthaupten. Doch Schahbas trat hinzu und flehte sie an: »Sein und mein Leben liegt in euren Händen. Lasst ihn noch fünfzehn Tage am Leben und mich dahinziehen. So ich euch die Schwester in zwei Wochen nicht wiederbringe, enthauptet ihn. «
So geschah es auch. Die Brüder hielten Rahman fest, und Schahbas ging von dannen. Schahbas wanderte und wanderte und kam schließlich ans Meer. Dort fand er ein Brett, setzte sich darauf und ruderte mit den Händen immerzu, bis er ans andere Ufer gelangte. Nunmehr zog er über Berg und Tal. Auf einmal erblickte er in einem Tal zehn wunderschöne Türme. Schahbas ging hin, und da sah er am Tor des Hofes zwei Mädchen, dass man sich sie schöner nicht denken kann: mit einem Bein standen sie im Hof, mit dem anderen jenseits der Torschwelle. Als sie ihn erblickten, erschraken sie und riefen ihm zu:
»Wo willst du hin, Bruder? So dir dein Kopf lieb ist, verschwinde von hier; denn der Riese wird bald heimkehren. «
»Nun, er möge kommen«, sprach Schahbas. »Bei eurem Glauben, Schwestern, wisst ihr, ob er unlängst ein schönes Mädchen, ein wunderschönes, hierhergebracht hat? «
»Ja, doch«, entgegneten die Mädchen. »Dort oben ist sie im Gemach. « Daraufhin begab sich Schahbas in die oberen Gemächer. Im ersten Zimmer saßen drei Mädchen, drei Vilen: eine schöner als die andere. Ihre Zähne glänzten wie Perlen, ihre Augen leuchteten wie die Sonne, und die Gesichter sahen roten Rosen gleich. Im zweiten Zimmer lagen lauter enthauptete Helden: nur Blut und Leichen. Im dritten fand er prunkvolle Ausrüstungen, wie man sie weder gesehen hat noch hat man davon gehört: Gold, Perlen, Seide, Samt, Silber und Waffen aller Art. Im vierten Gemach saß die junge Frau. Als sie einander erkannt hatten, rief sie ihm zu: »Fürwahr, mein Bruder, wenn dir dein Leben lieb ist, fliehe. Kein Held ist je von hier lebend zurückgekehrt! « Schahbas aber hörte dies nicht. Er ging in das dritte Zimmer, suchte sich auserwählte Waffen aus, begab sich zum Eingang und versteckte sich hinter dem Tor. Da kehrte auch schon der Riese von der Jagd heim: er war erzürnt, da er ohne Beute heimkehren musste. Er durchschritt das Tor, ohne links oder rechts zu blicken. In diesem Moment schlug Schahbas mit einem großen Säbel zu, hieb ihm das Riesenhaupt ab und legte es ihm zu Füßen.
Sodann kehrte er in die Gemächer zurück und durchsuchte sie. Dort fand er noch siebzehn Mädchen: alles Erwählte und Auserwählte, nebst Gold und Schätzen ohne Maß und Zahl. Außerdem fand er noch zwei Paar Pantoffel — aber Pantoffel, wie sie eine Kaduna niemals an den Füßen hatte und wie es sie auf der ganzen Welt nicht gibt. Schahbas nahm ein Paar und steckte es hinter den Gürtel. Danach raffte er Gold und bare Münzen zusammen, so viel er davontragen konnte. Auch nahm er die junge Frau und die anderen Mädchen, baute ein Floß und überquerte das Meer. Als er am anderen Ufer gelandet war, sprach er zu den schönen Mädchen: »Geht nunmehr hin, wohin ihr wollt. « Mit der jungen Frau aber begab er sich zu Rahman.
Der fünfzehnte Tag ging eben zur Neige, und die Brüder hatten Rahman schon herausgeführt, um ihn zu enthaupten, als Schahbas mit der jungen Frau vor ihnen erschien.
»Hier habt ihr eure Schwester«, sagte Schahbas. »Gebt mir meinen Bruder! « So geschah es auch. Die junge Frau blieb bei den Brüdern, und Schahbas und Rahman zogen des Weges weiter.
Als sie so wanderten und des Riesen Geld ausgaben, geschah es, dass sie schließlich auf den letzten Groschen kamen. Was sollten sie nun tun? »Es nützt nichts«, sagte Schahbas, »wir müssen diese Pantoffel verkaufen. « Schahbas ließ sich auf dem Basar nieder, um die Pantoffel zu verkaufen. Fürwahr, die Menge strömte herbei, um das nie Gesehene zu schauen. »Hier hast du fünfhundert Groschen«, sprach ein Kunde.
»Ich gebe sie nicht mal für fünftausend«, entgegnete Schah¬bas.
Und alle staunten über die wunderschönen Pantoffel. Aber wer kann sie schon kaufen?
Vom Fenster herab sah dies die Tochter des Schechislam, des obersten Priesters. Der arme Bursche bewunderte sie und rief ihr schließlich zu: »Du schönes Mädchen, mein Wunsch ist es, dass du die Meine wirst! « Die Tochter des Schechislam lächelte und sprach zu dem sehnsüchtigen Habenichts:
»Fürwahr, Bursche, bring mir die Pantoffel, und ich will die Deine werden! «
Als der Bursche dies vernahm, drängelte er sich durch die Kunden hindurch, nahm die Pantoffel, die von Hand zu Hand wanderten, auf dass jeder sie bestaune, steckte sie hinter den Gürtel, bahnte sich durch die Menge einen Weg und brachte sie der Tochter des Schechislam. Sie erzählte ihrem alten Vater, wie und was geschehen war und dass sie versprochen hatte, ihn zu heiraten. Fürwahr, es gab keinen Ausweg mehr, und Schechislam gab sie ihm zur Frau. Da brüstete sich die Tochter des Schechislam mit ihren Pantoffeln vor der Sultanstochter. Diese konnte die Kränkung nicht verschmerzen und sprach zu ihrem Vater, dem Sultan: »Vater, soll deine Dienerin schönere Pantoffel haben als ich? Es ist fürwahr eine Schande und Kränkung, bei Gott! Wohlan, Vater, besorge mir ähnliche Pantoffel! Bringst du es nicht zuwege, so werde ich mich entweder vergiften oder ins Meer stürzen! «
Dem Sultan tat es sehr leid, und andererseits sah er ein, dass seine Tochter die schönsten Pantoffel im ganzen Reich haben müsste. Was sollte er anderes tun als ausziehen, um den Händler zu suchen, der diese Pantoffel verkauft hatte. Schließlich fand er ihn. »Sprich, du Tor, hast du noch irgendwo dergleichen Pantoffel? Wenn du welche hast, bring sie hierher und verlange von mir, was du willst.
»Ehrwürdiger Sultan«, sprach Schahbas, »ich weiß noch ein Paar. Dir zuliebe will ich hingehen und sie holen. « Dem Sultan schmeichelte dies, und er kehrte zufrieden in sein Serail zurück. Schahbas indes machte sich auf den Weg und zog übers Meer in das Schloss des Riesen, nahm von den Schätzen, was er davontragen konnte, steckte das andere Paar Pantoffel hinter den Gürtel und kehrte zu dem Sultan zurück.
Der Sultan freute sich und war von ganzem Herzen froh. Er fragte jenen, was er begehre, auf dass er sein Versprechen einlöse. Schahbas küsste den Rocksaum des Sultans und antwortete: »Dein Wort, Sultan, und dein Wille mögen heilig sein! Gib deine Tochter meinem Bruder Rahman zur Frau. « Fürwahr, der Sultan hatte eine solche Antwort nicht erwartet; daher wurde er ein wenig nachdenklich. Doch, was gab es da zu überlegen, zumal er sein Wort gegeben hatte? Er hatte es versprochen, nun musste er es halten. Da führte Schahbas seinen Bruder Rahman herbei, und der Sultan gab ihm seine Tochter zur Frau. Sie lebten glücklich und zufrieden.
Eines Tages sprach Rahman: »Ehrwürdiger Sultan und Vater! Auch ich habe einen Vater. Dieser ist Sultan in Stambul. Auch mein Vater hat eine Frau. Diese ist meine Mutter. Lass mich und deine Tochter zu ihnen hingehen, auf dass wir sie wiedersehen und begrüßen. « Dies zu hören, war dem Sultan nicht unangenehm. Daher ließ er die besten Pferde des Stalles satteln, gab ihnen zehn Sklaven und sechs Sklavinnen mit sowie Wegzehrung und Geschenke und ein herrschaftliches Geleit.
Sie zogen von dannen. Wo es ging und die Wagen fahren konnten, saßen sie auf; zum anderen wieder ritten sie, so die Gegend unwegsam war.
Schließlich gelangten sie bis drei Nachtquartiere vor Stambul. Die Nacht kam über sie. Sie mussten ein Zelt aufschlagen. Rah¬man errichtete es; Schahbas jedoch baute sich keins.
»Was hast du vor, Bruder Schahbas! Du willst wohl unter freiem Himmel nächtigen? « fragte ihn Rahman.
»Nein, fürwahr nicht, Bruder Rahman. Du lässt mich doch wohl dein Zelt mit dir teilen: du mit deiner Hanum in der einen Hälfte, ich in der anderen? « Rahman widersprach ihm nicht, und so geschah es, wie Schahbas wünschte. Rahman legte sich mit seiner Frau in die eine Hälfte, Schahbas in die andere. Ein leichter Tau fiel herab, und der klare Mondschein ließ ihn erglänzen. Schahbas trieb es ins Freie. Ein leiser Wind wehte. Das Laub und die Gräser bebten. Er sah auf einem Baumstumpf vier Vilen sitzen. Da hörte er, wie die erste Vila sprach:
»Der arme Held und Sultanssohn Rahman freut sich, zu seinem Vater zu ziehen! Sein Vater wird ihm ein Pferd entgegenschicken, das, so er es besteigt, ihn in den Tod führen wird. « Sodann fuhr die zweite Vila fort:
»Armer Held und Sultanssohn Rahman! Er freut sich, seinen Vater wiederzusehen! Jener wird ihm durch einen Tataren einen gläsernen Becher überreichen lassen. So er daraus trinkt, muss er sterben. « Darauf sagte die dritte Vila:
»Armer Held und Sultanssohn Rahman! Du freust dich, zu deinem Vater zu gelangen; indes ahnst du nicht, dass du auf dem Pferd sterben musst und aus dem gläsernen Becher den Tod trinken wirst, statt gesund in das Serail zu gelangen. Dein Vater wird sich freuen! Er wird sich an einem dünnen Faden herablassen und sich in eine Schlange verwandeln. Sodann wird ein Drache kommen und ihn verschlingen. « Darauf fügte die vierte Vila hinzu:
»Derjenige, der ihm all dies verrät, soll sich in Stein verwandeln! «
Danach verschwanden die Vilen; sie flogen von dannen. Schah¬bas ging wieder in das Zelt und konnte nicht einschlafen. Er wälzte sich gedankenvoll auf seinem Lager hin und her und sann darüber nach, was er von den Vilen erfahren hatte. Da krähten auch schon die Hähne, und der Tag brach an.
Als die liebliche Sonne zum Vorschein kam und die Vöglein ihren Gesang begannen, wachten Rahman und sein Gefolge auf. »Sabaile hairula, guten Morgen, Bruder Rahman«, grüßte Schahbas. Dieser entgegnete ihm freundlich: »Sabaile hairula, Bruder Schahbas! «
Danach traten sie in reiner Herrgottsfrische vor das Zelt. Schahbas stützte sich auf seinen Säbel, senkte das Haupt und schwieg; es quälte ihn, und es tat ihm leid, die Vilen belauscht zu haben. Es fiel ihm schwer, Rahman auch nur anzuschauen.
Vor ihnen breiteten sich eine weite Ebene und eine sehr schöne Wiese aus. Wohlan, zügle deine Augen, wenn du es nicht vermagst, sie anzusehen! Von einem Ende bis an das andere! Siehe, wie das Pferd auf ihr tänzelt! Ein Pferd, wie es noch nie ein Herrscher bestieg: eine Rüstung aus lauter Gold, mit silbernen Steigbügeln, eine wehende Mähne! Nichts fehlt, als dass es zu dir spricht: »Besteige mich. « Das Pferd tänzelte; die Augen gehen einem über. Rahmans Augen wurden immer größer. Man sah es ihm an, dass er es um alles in der Welt besteigen wollte. Da sprang auch das Pferd schon vor ihn hin, blieb stehen, stampfte mit den Hufen und krümmte den Hals. Nun konnte auch Rahman nicht mehr widerstehen, gab seinem Herzen einen Stoß und fasste die Zügel. Dies sah plötzlich Schahbas, schlug mit seinem Säbel zu und hieb dem Pferd den Kopf ab. Der Kopf fiel zur Erde, und als er so durch das grüne Gras rollte, loderte aus ihm eine Flamme empor.
»Was hast du getan, Bruder Schahbas! Bei Gott und der Welt? « rief Rahman aus. » Siehe, mein Vater schickt mir ein Pferd, auf das wir schneller zu ihm gelangen, und du schlägst ihm den Kopf ab. «
»Preise Allah! « sagte Schahbas. » Was ich getan habe, war recht! Das andere Mal sollst du es besser machen, Bruder Rahman. «
Danach rüsteten sie ihre Pferde und den Wagen, brachen ihre Zelte ab und wollten sich auf den Weg begeben. Doch siehe, es erschien der schnelle Tatar, der in der Hand einen gläsernen Becher trug. Und was für einen! Man könnte ihn mit den Augen austrinken! Rahman konnte der Versuchung nicht widerstehen, fasste zu und wollte den Becher an sich nehmen. Gerade dies sah Schahbas im rechten Augenblick, hieb mit seinem Säbel dazwischen und schlug dem Tatar die Hand ab. Der Becher fiel in das grüne Gras, und wie er aufschlug, loderte eine Flamme aus ihm empor.
»Was hast du getan, Bruder Schahbas, so du bei Sinnen bist, fuhr ihn Rahman an. »Mein Vater sandte mir einen Trunk zur Begrüßung, und du vergießt ihn ins grüne Gras! «
»Preise Allah! « erwiderte Schahbas. » Was ich getan habe, war recht! Das andere Mal, Bruder Rahman, sollst du es besser machen, so du es verstehst. «
Nun brachen sie auf. Sie fuhren und fuhren und gelangten wahrlich am dritten Tag zum Akscham glücklich nach Stambul. Man brachte sie in die Gemächer des Sultans und wies ihnen ein Lager an.
Rahman ließ sich mit seiner Hanum in einem Gemach nieder und fragte Schahbas: »Wohin, in welches Gemach wirst du dich zur Ruhe begeben, Bruder Schahbas? «
»Lass uns dieses Gemach teilen, Bruder Rahman«, entgegnete Schahbas. »Die kleinere Hälfte mögest du mit deiner Hanum einnehmen, ich werde mich in der größeren niederlassen. «
Schahbas sprach, Rahman widersprach nicht. So legten sie sich schlafen.
Rahman schlief mit seiner Hanum bald ein. Schahbas aber brachte eine Mangala, kochte Kaffee, schlürfte ein wenig davon und rauchte. Es dauerte nicht lange, da sah er, wie sich eine Spinne an ihrem Faden von der Decke herabließ. Sie ließ sich herab, reckte und dehnte sich und verwandelte sich in eine Schlange. Kurze Zeit später streckte sie sich wieder, wurde dick, wuchs rasch und siehe — es war ein Drache. Nun war der Augenblick für Schahbas gekommen. Er zog seinen großen Säbel, schlug zu und hieb dem Drachen den Kopf ab. Sodann warf er ihn durchs Fenster ins Meer und legte sich schlafen.
Am anderen Morgen erhoben sich Schahbas, Rahman und seine Hanum und wollten zum Sultan gehen, um ihn zu sehen und um ihn zu begrüßen. Sie riefen die Diener herbei. Diese aber antworteten, der Sultan sei heute Nacht verschwunden. Man hat weder eine Spur noch eine Kunde von ihm. Niemand wusste, was mit ihm geschehen war — niemand außer Schahbas.
Da erfuhr das ganze Reich, dass der Sultanssohn eingetroffen war, und da es keinen anderen Erben gab, machte man ihn zum Sultan. Nunmehr herrschte Rahman und achtete und behütete Schahbas wie seinen leiblichen Bruder. Eines Tages sprach Schahbas zu ihm: »Hör zu, Bruder Rahman! Du liebst und achtest mich und weißt nicht, wer ich bin. Nicht wahr, wir lernten uns kennen als Fremde in einem fremden Land und lebten doch bis zum heutigen Tage wie Brüder? «
»Wahrhaftig«, entgegnete Rahman. »Ich kenne dich, und wie ich dich kenne! Ich kenne dich gut, als meinen Bruder und gar nicht anders. Einerlei, woher du bist. Du bist mein Bruder. Obgleich uns nicht dieselbe Mutter gebar und wir nicht die gleiche Milch tranken. «
»Lange Zeit schon sind wir zusammen, und es schickt sich, einander einmal zu sagen, was wir früher oder später einander sagen müssen. Als wir damals unter dem gleichen Zelt nächtigten, drei Nachtquartiere entfernt von Stambul, und du und deine Hanum schliefen, führte mich mein Sinn aus dem Zelt hinaus. Da ein leichter Wind wehte, flogen vier Vilen herbei und ließen sich auf einem Baum nieder. Die erste sprach damals: >Armer Held und Sultanssohn Rahman! Er freut sich, zu seinem Vater zu gehen; doch sein Vater schickt ihm ein Pferd entgegen, durch das er, so er es besteigt, sterben muss. < Daraufhin sprach die zweite Vila: >Armer Held und Sultanssohn Rahman! Er freut sich, seinen Vater wiederzusehen; doch sein Vater schickt ihm durch einen Tataren einen gläsernen Becher, der ihm, so er daraus trinkt, den Tod bringt. < Darauf sprach die dritte: >Armer Held und Sultanssohn Rah¬man! Er freut sich, zu seinem Vater zu gelangen. So er weder durch das Pferd ums Leben gekommen ist noch den Tod aus dem gläsernen Becher trank, sondern gesund ins Schloss gelangte, wird sich sein Vater in eine Spinne verwandeln, sich an einem dünnen Faden herablassen, zu einer Schlange und schließlich zu einem Drachen werden und ihn, Rahman, verschlingen.«
Hier hielt Schahbas inne. Rahman wurde nachdenklich und schwieg.
»Und was hat die vierte gesagt? « erkundigte sich Rahman. Schahbas antwortete nicht, sondern schwieg.
»Hörst du, Bruder Schahbas«, fuhr ihn Rahman an, »was die vierte Vila gesagt hat, möchte ich wissen. « Schahbas schwieg abermals. Da wunderte sich Rahman, weshalb sein Bruder nicht antwortet, er fasste ihn bei der Hand — jedoch die Hand war kalt, starr wie Eis. Er schaute ihm ins Gesicht, doch Schahbas war versteinert — richtig versteinert. Ein Stein, nur dass aus ihm Bruder Schahbas gemeißelt war.
Da fiel ihm Rahman um den Hals, begann zu wehklagen und zu weinen wie ein kleines Kind: »Wohlan, Bruder Schahbas, hat dies die vierte Vila gesagt? «
Danach ließ Rahman niemand in das Gemach, in dem der versteinerte Bruder lag, und unterhielt sich einen ganzen Tag mit dem Stein. Er küsste ihn und weinte. Nicht einmal einer Fliege gestattete er, sich auf ihn zu setzen. Er nahm einen Fächer und schützte ihn vor diesen. Wenn er seinen Geschäften nachging oder sich auf die Jagd begab, musste sich seine Ha¬num neben den Stein setzen und die Fliegen verjagen.
Es verging eine gewisse Zeit, und schließlich gebar die Ha¬num einen Sohn. Eines Tages ging Rahman abermals auf die Jagd, und die Hanum saß neben dem Stein und verjagte "die Fliegen. Da kam eine Sklavin zu ihr und sagte, ihr Kind weine, sie möge es doch säugen. Die Hanum ging zu dem Säugling, und da sie sich über ihn beugte, schlief sie ein. Im Schlaf vernahm sie eine seltsame Stimme: »Töte den Sohn, fang das Blut in ein Glas auf und übergieße damit den Stein Schahbas, so wird er wieder lebendig werden. «
Sie nahm einen Dolch, tötete den Sohn, fing das Blut in einem Becher auf und übergoss damit den Stein Schahbas. Schahbas erhob sich und ging von dannen. In diesem Augenblick wachte sie auf. Sogleich sah sie nach dem Kind hin. Doch siehe, das Söhnchen lebte, war gesund, zappelte mit den Beinchen und den Händchen und lächelte der Mutter zu. Noch halb im Schlaf stürzte sie ans Fenster, und unter dem Fenster ging Schahbas einher.
Rahman wusste von all dem nichts. Er kehrte von der Jagd heim, erkundigte sich nach niemandem und fragte nichts, sondern ging in jenes Gemach zu Schahbas. Doch siehe, Schahbas war nicht dort. Da fing Rahman an zu wehklagen und schrie: »Traurige Hanum, warum hast du es gestattet, dass man Schahbas davongetragen hat? « Ganz rasend vor Zorn ließ er die Hanum nicht zu Worte kommen, sondern zog seinen Säbel, um sie zu töten! Doch siehe! Da stand Schahbas hinter ihm, fiel ihm in den Arm, entriss ihm den Säbel und sagte: »Da bin ich, Bruder Rahman! Ich lebe wieder und stehe vor dir und deiner Hanum; töte sie nicht. Sie hat im Traum den Beweis erbracht, dass ein wahrer Freund mehr wert ist als das eigene Kind. Dies gefiel dem großen Allah, und daher wurde ich wieder lebendig. «
Rahman blieben die Worte in der Kehle stecken, und Tränen ergossen sich über seine Wangen. Sie breiteten die Arme aus, fielen sich um den Hals und konnten sich lange nicht aus der Umarmung lösen.
Der Freude Rahmans ward weder ein Ende noch ein Aufhören. Und wieder lebten sie so, wie es Brüder in Liebe zu leben je verstanden. Eines Tages sprach Schahbas zu Rahman:
»Rahman, lieber Bruder, siehe, wie lange wir schon zusammen sind, und noch niemals habe ich dir gesagt, wer ich bin. Nunmehr ist meine Zeit zum Abschiednehmen gekommen. Ich muss von dir scheiden. «
»Schahbas, teurer Bruder«, entgegnete Rahman, »seitdem wir uns kennen, kenne ich dich nicht anders und halte dich für nichts anderes als meinen Bruder, obgleich uns nicht dieselbe Mutter gebar und wir nicht die gleiche Milch tranken. Was du sagst, will ich in meinem Schloss und in meinem Reich halten. Alles, was mir gehört, gehört auch dir. Weshalb sollten wir Abschied nehmen? Ohne dich werde ich keine Freude mehr haben und auch nicht glücklich sein: denn alles, was ich besitze, habe ich durch dich erlangt. «
Schahbas quollen Tränen aus den Augen. Er ergriff Rahmans Hand und sprach zu ihm:
»Rahman, treuer Bruder und Haupt einer ganzen Welt! Meine Stunde ist gekommen! Ich muss von dannen: hier hast du drei Haare von meinem Haupt. So du meiner bedarfst, will ich dir zu Hilfe eilen. Nimm ein Haar und nähere es einer Flamme, und ich werde dir in der Not erscheinen. «
Schahbas riss sich drei Haare aus und gab sie Rahman.
»Was soll ich mit diesen Haaren, Bruder Schahbas, wenn ich dich nicht habe«, sprach Rahman. »Es betrübt mich, dich nur in der Not als meinen Freund zu wissen. Sei auch in der Freude mein Bruder, so wie du es bisher warst. «
»Lieber Bruder Rahman«, sprach abermals Schahbas, »warum zerreißt du mir das Herz und erschwerst mir das Abschiednehmen? Ich bin das Haupt einer ganzen Welt, und mein Volk harret meiner. Ich muss zu ihm hin. Es ist schon lange her, seitdem ich nicht dort war. Seit du den Fischkönig zusammen mit dem Siegelbewahrer des Sultans gefangen hast und ihn aus Barmherzigkeit wieder freigabst, hat er dir versprochen, beizustehen. Seitdem du den Freund und Gefährten Schahbas gefunden hast, gab es keinen Fischkönig in dessen Reich. Er war dir seither stets zu Hilfe; er hat sein Wort gehalten. Gib ihn frei und lass ihn in sein Reich zurückkehren. «
Jetzt ging auch Rahman ein Licht auf, und er sah ein, dass die Zeit des Scheidens gekommen war. Der Abschied dauerte drei Tage lang. Als die Zeit des Akscham am dritten Tage angebrochen war, konnte sich Rahman noch immer nicht von Schahbas trennen. Da rief Schahbas: »Leb wohl, Bruder Rah¬man! Wenn du meiner bedarfst, du hast drei Haare, ruf mich herbei! « Kaum hatte er dies gesagt, da sprang er durch das Fenster ins Meer. Rahman stürzte ans Fenster und, wahrhaftig: er sah einen Fisch mit einer goldenen Krone und mit goldenen und schwarzen Streifen, der unterhalb des Fensters davonschwamm.