Vilftidur Völufegri

Märchen aus Island


Auf einem Hof lebte einst ein Ehepaar. Der Mann war gutmütig und bieder. Die Frau war schön, aber böse. Sie hieß Vala. Das Ehepaar hatte eine Tochter, die Vilfridur hieß und vierzehn Jahre alt war. Weil sie noch hübscher war als ihre Mutter, erhielt sie den Zunamen Völufegri, das hieß: sie ist schöner als Vala. Die Mutter war darüber stets gekränkt, und sie begann, ihre Tochter zu hassen. Lange dachte sie darüber nach, wie sie Vilfridur aus dem Weg schaffen könnte. In dieser Absicht ging sie eines Tages mit ihr in den Wald und ließ sie dort allein. Vilfridur fürchtete sich sehr, irrte den ganzen Tag auf der Flucht vor wilden Tieren im Wald umher, und am Abend fiel sie erschöpft auf einem Stein nieder.
Nachdem sie eine Weile dort gesessen hatte, kamen zwei Zwerge aus einem Felsen hervor und befragten sie. Sie erzählte ihnen die ganze Geschichte. Die mitleidigen Zwerge boten ihr daraufhin den Felsen zur Wohnung an. Vilfridur nahm die Einladung dankend an und erfreute sich an allem Guten, das die Zwerge ihr antaten. Als sie sich schlafen legten, sagten die Zwerge zu ihr, sie möge auf nichts achten, was auch geschehen würde; vor allem wünschten sie, nicht geweckt zu werden. Vilfridur versprach das, und als die Zwerge in der Nacht sich stöhnend und unruhig sprechend auf ihrem Lager wälzten, weckte das Mädchen sie nicht.
Am Morgen, als sie erwachten, dankten sie ihr dafür. Bevor die Gastgeber des Mädchens zur Jagd aufbrachen, schärften sie ihr ein, niemandem zu öffnen, wer auch immer käme, sonst wäre es ihrer aller Tod. Das Mädchen versprach alles und wartete den Tag ab. Inzwischen saß Vala, ihre Mutter, zuhause vor einem Spiegel, der ihr Antwort auf alle Fragen gab. Am Morgen des Geschehens fragte sie ihren Spiegel gerade:
»Sag du, mein schöner Spiegel, mir:
Was treibt Vilfridur, wie geht es ihr? «
Der Spiegel antwortete:
»Wenig wird ihr Schade sein,
Zwerge pflegen sie in einem Stein. « Da geriet Vala ganz außer sich vor Zorn, denn sie wollte um jeden Preis, dass ihre Tochter den Tod erleide. Sie machte sich auf den Weg zu dem Felsen, in dem die Zwerge wohnten. Als sie dahin kam, war der Stein verschlossen. Da sie Vilfridur aber durch eine winzige Spalte erkennen konnte, begrüßte sie ihre Tochter mit schönen Worten und bat sie, hereingelassen zu werden. »Ich bringe dir den Ring der Großmutter«, säuselte sie, »bitte lass ihn dir anlegen, meine überaus hübsche Tochter. « Vilfridur betrachtete den Ring durch die Spalte, und da sie ihn schön fand, streckte sie einen Finger aus dem Felsen heraus. Vala steckte gleich den Ring auf den Finger und sprach dabei die Worte: Ich bewirke den Zauber, dass der Ring dich immer fester umschließe und dich erstickt - wenn sich nicht ein ähnlich Kostbares Gold von gleicher Art findet. « Sowie nun der Ring auf ihrer Hand steckte, begann Vilfri¬dur unerträgliche Schmerzen im ganzen Körper zu bekommen.
Als es Abend geworden war, kamen die Zwerge heim und machten Vilfridur Vorwürfe. Sie begannen, rastlos nach einem ähnlichen Gold zu suchen und fanden in ihren Schätzen schließlich eins von der gleichen Art. So wie es an den Ring gelegt wurde, sprang der entzwei, und Vilfridur wurde augenblicklich wieder gesund. In der kommenden Nacht hatten die Zwerge unruhige Träume; Vilfridur weckte sie aber nicht, und sie waren darüber sehr erfreut. »Vergiss aber nicht, niemanden zu empfangen«, sagten sie eindringlich beim Abschied, »auch nicht deine Mutter. «Und damit war Vilfridur wieder allein gelassen.
Abermals ging Vala zu ihrem Spiegel und sagte:
»Sag', du mein goldgeschmückter Spiegel, mir:
Was treibt Vilfridur, wie geht es ihr? « Und sie erhielt wieder dieselbe Antwort:
»Wenig wird ihr Schade sein,
•Zwerge pflegen sie in einem Stein. «
Da erzürnte Vala über alle Maßen, dachte nach und machte sich dann aufs Neue auf den Weg zu dem Felsen. Wieder lockte sie ihre Tochter, diesmal mit dem goldenen Schuh der Urgroßmutter.
Vilfridur war anfangs sehr abweisend und wollte von den heuchlerischen Verlockungen nichts hören. Als aber Mittag vorüber war, ließ sie sich doch von ihrer Mutter so weit überreden, den Fuß durch die Spalte hervorzustrecken. Vala steckte ihr den Schuh auf und sprach geschwind ihren Todesfluch. Sofort begann Vilfridurs Fuß so anzuschwellen, dass sie die Schmerzen kaum ertrug. Wieder schalten die Zwerge die Unachtsamkeit des Mädchens und waren betrübt über das Geschehen. Sie suchten jedoch nicht vergebens nach einem ähnlichen Gold, und erneut zersprang das Gold des verzauberten Schuhs. Vilfridur war ermattet von all den Strapazen, sie genas jedoch dank der fürsorglichen Pflege der Zwerge rasch. Nachdem alles wieder in Ordnung gebracht war, gingen sie zur Bettruhe.
Die Zwerge schliefen schnell ein und waren diesmal so unruhig wie nie zuvor. Sie warfen sich herum auf Nacken und Füße, Vilfridur weckte sie jedoch nicht. Als sie am Morgen erwachten, sagten sie zu Vilfridur, ihre Mutter käme auch heute wieder. Sie baten sie eindringlich, nicht aufzuschließen, was Vala auch tun oder sagen würde; denn es würde sie alle das Leben kosten. Dann gingen sie zur Jagd. Vala befragte ihren Spiegel und erhielt Antwort. Jetzt glaubte sie, man spiele ihr mit Zauberkünsten übel mit und machte sich wütend auf den Weg zum Felsen. Dort angekommen verstellte sie sich, fing an zu weinen und schluchzte, sie bereue ihr Verhalten sehr und bat Vilfridur um Verzeihung. »Nimm zum Zeichen meiner Reue diesen kostbaren Gürtel, das Kleinod unserer Familie. Und vergib mir, geliebte Tochter. «
Am Abend ließ Vilfridur sich endlich herbei aufzuschließen. Vala befestigte den Gürtel um ihren Leib und sagte: »Ich wirke durch Zauber, dieser Gürtel möge in deinen Körper eindringen, damit du daran stirbst. Niemals wird er sich lockern, es sei denn, der König von Deutschland bemüht sich, ihn loszumachen. «
Immer enger zog der Gürtel sich zusammen, Vilfridur glaubte zu ersticken, und Vala lief hohnlachend davon. Als die Zwerge heimkehrten, war Vilfridur dem Tod nahe. Sie konnte gerade noch sagen, welchen Zauber ihre Mutter diesmal gewirkt hatte. Sehr traurig trugen die Zwerge das Mädchen zum Meer und legten sie an einem schönen Strand nieder. Das Mädchen konnte bereits nicht mehr sprechen.
Nun nahmen die Zwerge Pfeifen zum Mund und begannen zu blasen. Sie bliesen so stark, dass ein schlimmes Unwetter entstand und den König der Deutschen, der auf großer Segelfahrt in der Nähe war, zwang, an Land zu gehen. Ganz in der Nähe warf er Anker. Kaum ging er an Land, da heiterte das Wetter wieder auf, und der König konnte einen Spaziergang längs der Küste wagen. Da fand er das schöne Mädchen, das besinnungslos dalag. Er dachte sich, es könnte vielleicht gut sein, etwas an ihr zu lockern, und zog ihr deshalb den engen Gürtel ab, was ihm auch nach einer Weile gelang. Während er sich mit ihr beschäftigte, kam sie wieder zum Leben zurück und schlug die Augen auf. Kaum konnte sie wieder sprechen, da fragte sie: »Wohin sind die Zwerge gekommen? «
Der König von Deutschland wusste jedoch nichts von Zwergen. »Bitte sucht sie«, sagte Vilfridur. Und als er ein Stück des Strandes absuchte, fand er die Zwerge tot, mit ihren Pfeifen im Mund.
Vilfridur weinte bitter. Als der König ihr nun anbot, doch mit ihm zu ziehen, nahm sie dankbar an, denn sie hatte ja hier niemanden mehr. Sie nahmen noch die Schätze und Kleinode aus der Felsenwohnung mit und kehrten nach Deutschland zurück.
Schon nach kurzer Zeit wollte der König das Mädchen, das ihm sehr gefiel, heiraten. Vilfridur stimmte zu, stellte aber eine Bedingung: »Niemals darfst du jemandem Winterherberge geben, ohne mich vorher zu fragen. « Der König versprach, diese leichte Bitte zu erfüllen, und so heirateten sie.
Vala konnte ihre Tochter nicht vergessen, befragte ihren Spiegel und erhielt zur Antwort:
»Kein Ungemach sie weiterhin mehr fand, Deutschlands Königin wird sie jetzt genannt. « Wie die böse Vala zornig über diese Antwort nachdachte, kam sie zu dem Entschluss, ihren Mann nach Deutschland zu schicken, damit der während des Winters am Königshof lebe und Vilfridur nach dem Leben trachte. Als Zeichen vollbrachter Tat sollte er ihr eine Haarlocke, die Zunge und Blut aus ihren Adern senden.
Der Mann ließ sich dazu herbei und machte sich auf den Weg nach Deutschland.
In der Halle des Königs angekommen, brachte er sein Anliegen vor, wurde jedoch von diesem an die Königin verwiesen. Da lachte Rother, so hieß der Mann, spöttisch und schallend und meinte, wenn er als König nicht einmal über etwas so Geringes selbst entscheiden könne, wie einen fremden Gast zu beherbergen, so wolle er zu anderen Königen gehen und die Geschichte dort zum Besten geben. Durch diese Drohung ließ, der König sich verunsichern, und er gewährte Rother schließlich doch Unterkunft.
Bald darauf erzählte der König der Königin jedoch. anlässlich einer Unterhaltung, von dem Besucher, dem er Unterschlupf gegeben hatte. Die Königin war unwillig, sah jedoch ein, dass es keinen Sinn habe, darüber zu streiten »Aber meine Ahnung sagt mir, dass du diese Handlungsweise bereuen wirst, mein Mann«, setzte sie hinzu. Nach kurzer Zeit wurde offenbar: die Königin war schwanger. Und als die Geburt nahte, wussten die Hebammen nicht, wie sie helfen sollten. Der König wurde bei diesen Schwierigkeiten traurig, und Rother, der von der Sache Wind bekam, bot seine Hilfe an. Rother begab sich zur Königin. Er wies alle anderen aus dem Zimmer. Dann stach er ihr einen Schlafdorn in den Kopf, brachte das Kind zur Welt, schnitt dem Knaben ein Ohr ab, das er der schlafenden Mutter in den Mund steckte, und warf das Baby aus dem Fenster.
Hierauf alarmierte er den König. Als beide das Gemach betraten, tat Rother sehr erstaunt, dass das Kind verschwunden war, und zeigte dem König dann scheinheilig das Ohr im Mund der Mutter, die gerade erwachte. Der König war entsetzt. Als aber Rother forderte, die Königin müsse zum Tode verurteilt werden, weil sie das Kind gegessen habe, weigerte er sich entschieden, etwas so Undenkbares zu tun.
Rother sah, dass er beim König nicht sein Ziel erreichen könne, und steckte zurück. In der folgenden Zeit geriet er, der die Königin gerettet hatte, zu hohem Ansehen bei Hofe. Ein zweites Mal wurde die Königin schwanger, und alles ereignete sich wie zuvor. Diesmal steckte Rother ihr eine Zehe in den Mund. Aber wieder blieben seine Bemühungen fruchtlos, sie töten zu lassen, denn der König wollte ohne seine geliebte Frau selbst nicht weiterleben. Als die Königin zum dritten Mal gebären sollte, schnitt Rother dem Knaben einen Finger ab und erreichte diesmal, da er inzwischen der höchste Ratgeber am Hof geworden war, dass die Königin von zwei Knechten in den Wald geführt und dort umgebracht werden sollte. Rother trug den Knechten auf, ihm nach vollbrachter Tat eine Locke, ihre Zunge und Blut in einem Horn zu bringen. Die Knechte gingen widerwillig an die Sache, denn Vilfridur hatte sich die Liebe aller Leute erworben. Als sie eine kurze Strecke in den Wald gegangen waren, beratschlagten sie die Art des Tötens. Da bat Vilfridur sie flehentlich, die Zunge einer Hündin auszureißen, etwas Blut des Tieres in ein Horn fließen zu lassen, und eine Locke ihres Haupthaares wolle sie den Knechten schon geben. Die Angeredeten stimmten auch erleichtert zu und ließen Vilfridur danach in den Wald entkommen.
Den ganzen Tag irrte Vilfridur durch den Wald. Nirgends fand sie Schutz. Es dunkelte bereits, als sie eine Hütte erreichte. Sie klopfte an, und ein stattlicher Mann öffnete ihr. Als er sie erblickte, sagte er: »Selten besucht uns ein so ansehnlicher Gast, kommt nur herein. « Und sie trat in das Haus.
Behaglich und sauber war es drinnen, und eine köstliche Abendmahlzeit wartete auf Vilfridur, die danach tief und fest in einem weichen Bett schlief. Am Morgen brachte der Mann ihr Stoff und Nähzeug und bat sie, Kleider für Kinder zuzuschneiden. Er selbst ging fort, um den Lebensunterhalt herbeizuschaffen. So blieb die Königin lange Zeit bei dem Mann und war mit ihrem Los nicht unzufrieden. Bald nach dem Verschwinden der Königin starben von der Herde des Königs viele Tiere oder kamen abhanden. Der König, seit dem vermeintlichen Tod seiner Frau sehr düster, schlug Rother vor, doch mit auf die Jagd nach dem Raubtier zu gehen, das seine Herde reduziere. Zu zweit gingen sie in den Wald und kamen so tief hinein, dass sie sich verirrten. Sie gingen und liefen, fanden jedoch nicht hinaus. Als der Abend kam, waren sie erschöpft; die Nacht brach an, und Hunger quälte sie. Sie wussten sich nicht mehr zu helfen.
Endlich kamen sie an eine Lichtung und sahen eine größere Hütte. Erleichtert klopften sie an, es wurde ihnen von einem stattlichen Mann aufgetan, und sie wurden willkommen geheißen. »Herr König, es ist mir eine Ehre«, sagte der Gastgeber, »Euch unter meinem bescheidenen Dach zu wissen. Ihr Begleiter jedoch kann meine Gast-freundschaft nur genießen, wenn er seine Lebensgeschichte erzählt. «
Rother musste sich auf einen Stuhl am Feuer setzen, der Mann kam, steckte ihm einen großen Ring an die Hand und forderte ihn auf, nun zu beginnen.
Rother begann ohne Umschweife. Als er aber dahin kam, sein Zusammentreffen mit der Königin zu berichten, da schlug er Umwege ein und wich von der Wahrheit ab. Da sagte der Mann:
»Drücke Rother, roter Ring,
es sollen die Spitzen ihn stechen,
spricht er nicht die Wahrheit. «
Bei diesen Worten stachen die Spitzen des Ringes so stark, dass Rother sich Mühe gab, nur Wahres zu erzählen, denn dann hörten die Schmerzen auf. Und obgleich er einige Male lügen wollte, peinigten ihn die Ringspitzen so sehr, dass er alles der Wahrheit nach erzählte. Nachdem er geendet hatte, war der König sehr zornig. Der Gastgeber fragte ihn, welches Urteil er über Rother fällen wolle, denn es sei ja nun an den Tag gekommen, welchen Mann er bei sich aufgenommen habe. Der König war außer sich. »Gegen ein solches Verbrechen gibt es keine gerechte Strafe«, sagte er, »ich weiß nicht, wie ich ihn bestrafen soll. «
»Darf ich dir einen Vorschlag machen? « fragte da der Mann.
»Ja, gewiss, sprich nur. «
»Wir sollten ihn sogleich mit dem Kopf zuunterst in den Kessel mit siedendem Wasser stecken, der dort auf dem Herd steht. «
»Gut«, erwiderte der König.
Ohne Zaudern ergriff der Mann Rother und steckte ihn in den Kessel, wo er bald sein Leben aushauchte. Dann führte der Mann den König in das Nebenzimmer, wo die Königin saß. War das eine Wiedersehensfreude! Und als der geheimnisvolle Gastgeber schließlich auch noch mit drei kleinen Kindern in die Stube kam, die sich als die Königskinder entpuppten, waren die Eltern ganz sprachlos vor Glück und Erstaunen.
Da erzählte der Mann, er sei in der Nähe der königlichen Halle gewesen, als Rother die Kinder aus dem Fenster warf, und er habe Sorge getragen, dass sie keinen Schaden nahmen.
»Was für einen Lohn wünschst du dir, Fremder? « wollte der König wissen.
»Ich wünsche weiter nichts, als dass Ihr Eure Tochter bei mir lässt. «
Nach kurzem Zögern willigten die Eltern ein, denn sie hätten dem Mann jeden Wunsch erfüllt. Nachdem sie sich ausgeruht hatten, zogen die Eltern mit den beiden Söhnen zum Königspalast zurück und ließen die Tochter bei ihrem Ziehvater zurück.
Die Königstochter wuchs heran. Da bat einmal ihr Ziehvater, sie möge ihn in ihrem Bett schlafen lassen. Sie liebte ihn sehr und willigte ein. Am nächsten Morgen sah sie, dass ein junger, schöner Königssohn neben ihr lag. »Ich war verzaubert«, sagte der junge Mensch, »jetzt ist die Zeit gekommen, wo wir zusammen leben können. « Sie verließen die Hütte und zogen zur Königshalle. Man kann sich denken, wie sie dort aufgenommen wurden! Eine große Hochzeit krönte das Ereignis. Und als der junge, verzauberte Königssohn mit seiner jungen Frau, der eine Zehe fehlte, in seine Heimat zurückfuhr, nahmen sie allerhand Schätze mit. Und alle Beteiligten lebten lange in allem Glück.