Die Überfahrt

niederländisches Märchen

Ich schätze, dass es jetzt fünfundzwanzig Jahre her ist. Es war ein Wintertag, beinahe schon dunkel, und wir beide - Marie, meine Frau, lebte noch - saßen am Ofen, der dort in der Ecke stand. Thijs Timmer bediente in der Zeit für mich die Fähre, denn, wenn ich für ein Stündchen nach Hause ging, um etwas zu essen, musste da natürlich ein Ersatzmann auf dem Boot sein. Marie hatte gerade gesagt, dass sie Brot schneiden wollte, als es an die Tür klopfte. Ich war in jenen Tagen noch nicht so schwerhörig wie heute und hörte das Klopfen also deutlich. »Ja ...? « rief ich und daraufhin öffnete sich die Tür. Auf der Türschwelle stand ein fremder Mann, der uns ruhig einen guten Abend wünschte und fragte, ob er mich eben mal sprechen könnte. Der Mann sah anständig aus, war elegant in Schwarz gekleidet und hatte ein Paar dunkle Augen in einem bleichen Gesicht. Unwillkürlich dachte ich, dass ich den Pfarrer aus Andelst oder aus irgendeinem anderen Dorf vor mir hätte.

Ich stellte noch einen Stuhl an den Ofen, aber der Mann blieb ein paar Meter entfernt von mir stehen. Als ich ihn fragte, womit ich ihm helfen könne, sagte er:

»Ich suche einen Schiffer, der mich auf die andere Seite fährt. «

»Gut«, erklärte ich, »ich bin aber gerade zu Hause, um etwas zu essen. Die Fähre ist natürlich besetzt und fährt. Thijs Timmer wird sie gut hinüberbringen. «

Und der Fremde antwortete: »Ich suche einen Schiffer, der ein gutes Boot hat oder eins verleihen kann und in der Nacht für mich auf die andere Seite fährt. Es ist für eine gute Sache, und es wird gut zahlt! «

Ja, was sollte ich nun tun? Ich konnte gut ein paar Gulden mehr gebrauchen, und wenn Thijs Timmer in den Stunden, in denen ich weg sein würde, die Fähre im Auge behalten würde, wäre alles gut geregelt. Also willigte ich ein, und kaum war das geschehen, begann der Fremde damit, das Geld auf den -Tisch zu zählen, auf diesen Tisch, an dem wir jetzt sitzen und reden. Ich erinnere mich noch, dass ich sagte:

»Nein, nein, mein Herr, ich vertraue ihnen, bezahlen sie mich getrost erst dann, wenn die Arbeit erledigt ist. «

Aber er achtete gar nicht darauf. Stattdessen kam er ganz nah an mich heran und sagte dann:
 »Das ist nun also abgemacht: Von nun an stehst du in meinem Dienst. Sorge dafür, dass du genau um Mitternacht mit dem Boot am Ufer bist, genau dort, wo sonst die andere Fähre ablegt! « Kaum hatte er das gesagt, drehte er sich um und verschwand. Auf dem Tisch lag das Geld, das er im Voraus bezahlt hatte. Es war eine ganz schöne Summe, mehr als ich in einer Woche als Fährmann verdiente. Marie, meine Frau, war erstmal überhaupt nicht auf das Geschäft, auf das ich mich mit dem Unbekannten eingelassen hatte, anzusprechen; aber Frauen sehen ja immer mehr Gefahr bei solchen Sachen als ein Mann. Und falls an der Sache in der abgemachten Nacht irgendetwas nicht stimmen sollte, nun, dann würde mich keine Macht der Welt dazu bringen können, doch bei dieser Fährpartie mitzumachen.

Ich erinnere mich noch ganz genau an diesen Abend an die Nacht. Es stürmte ziemlich stark aus Nordwest. Und es war Neumond, und kein einziger -Stern war am Himmel zu erkennen, als ich um halb zwölf das große Ruderboot, das mir der Meister von der Ziegelofenwerkstatt geliehen hatte, fertigmachte. Angst hatte ich nicht, aber ich war wohl ein bisschen neugierig auf die Pläne des fremden Herrn. Ob er heute allein kommen würde? Oder, ob er noch andere Leute mitbringen würde? Was kann er mitten in der Nacht noch in Andelst zu tun haben, vorausgesetzt, dass er dorthin wollte. Es würden doch wohl keine Spione oder Schmuggler oder Diebe sein, die dachten, dass sie mich vor ihren Karren spannen könnten ... Es war noch nicht ganz Mitternacht, als das Boot am Steg festmachte. Kein lebendes Wesen war zu entdecken. Nun gut, ich war jedenfalls pünktlich, hatte mich also an mein Wort gehalten. Ich blieb deshalb im Boot sitzen um abzuwarten, was passieren würde. Der Sturm nahm noch weiter zu, das Wasser schlug und spritzte gegen das Boot, und es war dunkel ... Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine solch dunkle Nacht erlebt zu haben. So wartete ich also, blickte in der Dunkelheit umher und hörte dem entlangziehenden Wasser zu, als die Turmuhr zwölf schlug. Es muss die aus Wageningen gewesen sein, weil der Wind genau aus der Ecke kam.

Kaum war der letzte Glockenschlag erklungen, als ich deutlich fühlte, dass jemand hinter mir in das Boot stieg. Natürlich habe ich mich umgesehen, aber ich konnte keinen Menschen sehen, es war noch nicht einmal ein Schatten zu erkennen, und deshalb glaubte ich, dass mir meine Einbildung einen Streich gespielt hätte. Noch nicht einmal eine Sekunde später fühlte ich wieder etwas hinter mir und dann wieder was, genau so, als ob sehr vorsichtig Menschen einsteigen würden. Aber das hielt ich für ganz und gar unmöglich, denn wie sehr ich auch um mich schaute, es war niemand zu sehen.

Ich war in jenen Tagen wirklich nicht ängstlich, aber trotzdem merkte ich, wie mir doch ein Schauer über den Rücken lief. Das hier ging mir doch über meinen Verstand; ich hatte mich wohl auf eine sehr merkwürdige Sache eingelassen, aber nun hatte ich einmal damit begonnen. Ich beschloss also abzuwarten, was weiter passieren würde.

Es stand aber für mich fest, dass eine ordentliche Fracht irgendwie in mein Boot gelangte, denn es fing an, immer fester auf dem Wasser zu liegen und-schließlich auch tiefer. Und ohne Zweifel spürte ich hin und wieder leichte Stöße, genau so, als ob kleine Kinder hinter mir ins Boot stiegen. Das Merkwürdige war und blieb, dass ich weder etwas vor mir noch hinter mir entdecken konnte. Das Boot sank allmählich immer noch tiefer, und ich fing gerade an, mir Pläne zu machen, um beizeiten rauszuspringen, als auf einmal das Einsteigen beendet zu sein schien. Es kam niemand mehr dazu, und darüber war ich, ehrlich gesagt, nicht traurig. In den nun folgenden Minuten saß ich da und grübelte darüber nach, wohin ich mit der unbekannten Fracht sollte. Es würde mir nicht schwerfallen, zum anderen Ufer zu rudern. Ich würde mich zwar ordentlich ins Zeug legen müssen, aber schließlich wurde ich ja auch dafür bezahlt. Auf einmal wird mir das Tau, mit dem ich das Boot festgemacht hatte, auf die Knie geworfen und eine Stimme hinter mir sagt leise, aber ganz deutlich »Fahr‘ rüber . . .! Fahr' zum anderen Ufer.«

Wieder schaute ich mich über die Schulter um, aber es war niemand zu sehen.

Dann machte ich mir keine Gedanken mehr darüber, ich tat einfach das, was mir gesagt wurde, aber trotzdem fand ich es sehr geheimnisvoll und auch etwas gruselig. Aber, überlegte ich mir, wenn ich das Boot erst einmal drüben hätte, wäre ich fertig und dann könnte ich, mit ein bisschen Glück, eine gute Viertelstunde später in meinem Bett liegen. Aber es kam alles etwas anders. …

Ich zog das Boot ins Wasser, schräg gegen den Strom, mit der Absicht, kurze Zeit später am gegenüber liegenden Ufer anzulegen. Aber dieser Plan missglückte. Stromaufwärts konnte ich keinen Schlag vorwärtskommen, und als ich ungefähr in der Mitte des Flusses war, und zwar, nachdem ich mich kräftig in die Riemen gelegt hatte, trieb ich plötzlich ab. Es gab kein Halten mehr und ganz bestimmt nicht mit dieser Fracht, die ich mit mir führte. Ich machte mir keine Gedanken über ein Unglück, denn das Boot glitt sicher auf dem ruhigen Fluss dahin. Ich fing an zu begreifen, dass es noch jemand anderen gab, einer, der stärker war als ich. Das Boot fuhr schnell, und ich brauchte die Riemen kaum zu benutzen. Ich musste so langsam schon ein ganz ordentliches Stückchen von zu Hause weg sein. Endlich schien es auch ein bisschen heller zu werden, aber das Licht kam vom Land her, wie sich ein bisschen später herausstellte. Allmählich begann das Boot langsamer zu fahren, aber immer noch mit einer stärkeren Fahrt als sonst. Das Land kam schon näher, und ein bisschen später war ich am Ufer und zog die Riemen ein. Ich begriff, dass die Reise zu Ende war, aber ich konnte den Ort, an dem ich mit dem Boot lag, nicht erkennen. Alles kam mir fremd vor, sehr fremd, gerade so, als ob ich träumen würde. Am Ufer war kein Mensch zu sehen.

Auf einmal erklang eine Stimme, und die erkannte ich sofort. Es war der Unbekannte, der zu mir in mein Haus gekommen war und mich in seiner Dienst genommen hatte. Ich spitzte meine Ohren um alles gut zu verstehen, was er nun erzählen würde. Er rief, so, dass man es gut verstehen konnte, einen Namen und gleich darauf wieder einen und noch einen. Es wurde eine lange Liste von vielleicht gut hundert Namen, alle von Menschen, die ich nicht kannte, obwohl auch Namen dabei waren, die hier in die Gegend gehörten. Das Merkwürdige und Gruselige war, dass mein Boot nach jedem aufgerufenen Namen einen Tick leichter wurde. Es ging eine ganze Zeit so weiter, und ich kapierte, dass die unsichtbaren Passagiere, die an der Fähre eingestiegen waren, nun an Land gingen.

Ab und zu bildete ich mir ein, ein leises Geflüster zu hören, und es kam mir auch so vor, als ob eine durchsichtige, weiße Wolke über dem Ufer läge. Mehr konnte ich nicht erkennen. Viel mehr Zeit zum Schauen hatte ich sowieso nicht mehr, denn plötzlich rief der Fremde mir vom Ufer zu, dass ich abhauen könnte: »Fahr' ...! Fahr' zum anderen Ufer«, rief er wieder, und kam Bewegung in das Boot. Ich nahm die Ruder, und es ging los, genauso schnell wie auf der Hinfahrt. Die Strömung machte mir überhaupt keine Schwierigkeiten, und so kam ich schnell und ohne Mühe wieder an die Stelle zu-rück, von der ich kurz nach Mitternacht abgelegt hatte, nämlich bei der Fähre.

Im Nachhinein schien es mir, als hätte ich alles nur geträumt, und als ich bei Anbruch des Tages am nächsten Morgen aufstand, war mein erster Gang in Zimmer, in dem ich das vorausbezahlte Geld versteckt hatte. Es lag wirklich da, und so konnte es also kein Traum gewesen sein, was passiert war. Es blieb übrigens nicht bei der ersten Fahrt; nachdem einige Zeit vergangen war, wurde mir mitgeteilt, dass ich um Mitternacht mit dem Boot am angegebenen Platz zu sein hätte. Es klopfte wieder spät am Abend auf eine bestimmte Art an die Tür, und dann wussten wir schon, was das zu bedeuten hatte. Schauten wir nach draußen, war niemand zu sehen, nur gab eine leise Stimme immer denselben Befehl: »Fahr' .. .! Fahr' zum anderen Ufer!« Dann musste ich, ob ich wollte oder nicht, in die Nacht raus, um das Boot zum anderen Ufer zu bringen. Es passierte schon ein paarmal, dass ich wegen des schlechten Wetters wenig Lust hatte, dem Befehl nachzukommen und wieder aufzustehen, aber dann bekam ich ein so unangenehmes, beklemmendes Gefühl, dass ich hochschoss, mich Hals über Kopf ankleidete und zur Fähre ging. Manchmal dauerte es aber auch ein paar Wochen, bis ich wieder hinkommen musste, aber es passierte auch schon mal, dass ich dreimal in einer Woche nachts aus dem Bett geholt wurde. Das war wenig angenehm, aber ich konnte aus der Sache nicht raus. ... Genauso wenig wie früher Eb der Pferdehändler, der beim Friedhof wohnte und des Nachts herausgeholt wurde, um für den Leichenzug, den er sah, das Tor zum Friedhof zu öffnen. Und genauso wenig wie Jan Daniel, der Zimmermann, der es nachts gegen die Wand oder die Tür klopfen hörte. Dann wusste er, dass bald jemand sterben würde. Das Klopfen war also nur ein Zeichen oder eine Nachricht, dass der Zimmermann damit rechnen musste, in ein paar Tagen einen neuen Sarg fertig zu haben. Und genau so kam es auch immer, es war ein unfehlbares Zeichen. Sonderbare Dinge sind das, wir können sie nicht begreifen, aber sie passieren.

Was meine Angelegenheit betrifft, glaube ich, dass sie vor ein paar Jahren jemand anderem übertragen wurde, obwohl ich nie jemanden darüber hab' reden gehört. Ich bin jetzt alt geworden, und, Gott Dank, noch gesund. Vielleicht kann ich noch paar Jahre in Ruhe leben, bis ich selber für immer rübergebracht werde. Wenn ich bald nicht mehr kann und aufgerufen werde, fürchte ich mich vielleicht nicht so sehr vor dem Ganzen, weil ich es ja irgendwie schon kenne. Jedenfalls hoffe ich es wenigstens.

Ja, was ich noch sagen wollte: den fremden Man habe ich später nie wieder getroffen, aber er hat mich bis zum Schluss gut behandelt ... In jeder Woche, in der ich mit der Fahrt nach drüben begann, lag da Geld in einem Stoffbeutel schon für mich da, und zwar auf der vordersten Bank im Boot.