Das Kind des Todes

Vietnamesisches Märchen

Einen Monat bevor sie Mutter werden sollte, wurde eine junge Bäuerin von einer Krankheit hin weggerafft. Einige Augenblicke vor ihrem Tode sah sie ihren Mann — ganz gegen die ihr sonst eigene Scheu — lange an. Auch der Mann zögerte nicht, sich vor aller Augen zu seiner Frau hinab zu beugen. Er hörte sie murmeln: »Das Kind ... unser Kind ...« Dann löschte sie aus.
Der junge Bauer stieß einen schrecklichen Schrei aus. Er war verzweifelt und jammerte und schluchzte zur großen Verwunderung seiner Verwandten. Sie hatten nicht gewusst, dass er zu derart heftigem Schmerz fähig war. In unserer Gegend ist man an das Unglück gewöhnt, besonders dann, wenn man nicht reich ist.
Die Menschen hier müssen hart arbeiten, und sie haben keine Zeit, sich selbst zu bedauern und ihrem Schmerz hinzugeben.
Am Tage nach der Beerdigung seiner Frau ging unser Bauer schon wieder hinter seinem Büffel und seinem Pflug. Einige Tage später sah die beinahe blinde Greisin, die auf freiem Feld in der Nähe eines Steges Tee, Betel und andere Speisen verkaufte, eine Frau kommen. Sie schien ihr nicht fremd. Die Frau kaufte für einige Sapeken Honig.
Als sie gegangen war, sagte die Enkelin der Händlerin zitternd, sie habe die junge Tote wiedererkannt.
Am nächsten Tag kam die Frau wieder und verlangte wiederum Honig. Auf eine Frage der Händlerin antwortete sie: »Das ist für mein Baby, denn ich habe keine Milch. « Auf ein Zeichen ihrer Großmutter folgte ihr die Enkelin mit den Augen und sah, dass sie sich in Richtung ihres Grabes entfernte.
Die Händlerin ließ den Bauern suchen. Am nächsten Tag — er holte gerade Wasser — blieb er in der Nähe der Hütte und wartete. Gegen Abend sah er seine Frau kommen. Er stürzte vor ihr nieder und sprach sie an. Aber sie hörte ihn nicht, senkte den Kopf und floh. Er verfolgte sie, aber er verlor sie plötzlich aus den Augen.
In Tränen aufgelöst lief er wie ein Wahnsinniger zum Grab seiner Frau und warf sich vor Verzweiflung schluchzend darauf nieder. Unbeweglich und völlig verstört blieb er dort liegen, und seine Tränen flössen unaufhörlich. Plötzlich glaubte er Kinderschreien zu hören; es schien aus dem Grabe zu komen. Er presste sein Ohr auf das Grab, und nun hörte er es deutlich.
Er lief nach Hause, nahm einen Spaten und begann, den Sarg freizulegen. Als er ihn öffnete, sah er einen Knaben. Er lag auf dem Leib seiner Mutter und bewegte sich schwach. In den Mundwinkeln hatte er Spuren von Honig. Der Körper der Frau war kalt, aber nicht verwest. Ihr ruhiges Gesicht wirkte sanft, und es schien, als lächle sie. Verschwunden war der schmerzvolle Ausdruck, den es am Tage ihres Todes gezeigt hatte.
Der junge "Bauer trug das Kind in seine Hütte, und man half ihm, den Sarg und das Grab wieder zu schließen. Im Dorf suchte er eine Frau, die das Kind stillen sollte. Aber die Leute hatten Angst und wichen ihm aus. So blieb ihm nichts übrig, als seinen Sohn einige Tage lang mit gekochtem Reis zu ernähren. Doch endlich siegte das anteilnehmende Herz seiner Nachbarn über ihre Furcht.
Das Kind wuchs wie andere Kinder auf, und auch später verlief sein Leben ohne besondere Ereignisse. Seine Mutter wurde von keinem Menschen je wieder gesehen. Der Bauer kehrte umsonst an ihr Grab und zur Hütte der Alten zurück. Sie erschien ihm kein weiteres Mal, auch im Traume nicht. Vergeblich betete er in dem Tempel, vergeblich wachte er dort die Nacht. Man kann wohl annehmen, dass alle Kraft der armen Frau nur dazu gereicht hatte, ihr Leben bis zur Geburt ihres Sohnes zu verlängern. So war er gerettet. Diese Anstrengung hatte sie wohl derart erschöpft, erschöpft sogar bis auf den Rest Leben, der den Toten gewöhnlich ermöglicht, eine Zeitlang die Lebenden im Schlaf zu besuchen.