Die Hexe auf der Espe

aus Litauen/Lettland

Zwei Brüder gingen einst auf die Jagd. Im Wald trafen sie ei­nen Hund. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« »Ach, schieß mich nicht!« antwortete der Hund, »ich will jedem von euch drei Junge geben. Das erste Paar heißt Packan, das zweite Zerbrich, das dritte Splittereisen. Wenn die ersten zupacken, so wird es stäuben, wenn die zweiten brechen, so wird es krachen, wenn die dritten reißen, so wird es splittern.«

Gut. Nach einer kleinen Weile trafen sie einen Wolf. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« »Schieß mich nicht!« antwortete der Wolf, »ich will jedem von euch einen Welpen geben, das werden gute Spürer sein.«

Gut. Nach einer Weile trafen sie einen Bären. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« »Schieß mich nicht!« antwortete der Bär, »ich will jedem von euch ein Junges geben, das werden gute Trotter sein.«

Gut. Nach einer Weile trafen sie einen Luchs. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« »Schieß mich nicht!« antwortete der Luchs, »ich will jedem von euch ein Junges geben, das werden gute Springer sein.«

Gut. Nach einer Weile trafen sie einen Fuchs. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« »Schieß mich nicht!« antwortete der Fuchs, »ich will jedem von euch ein Junges geben, das werden treffliche Heilkünstler sein.«

Gut. Nach einer Weile trafen sie einen Elch. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« »Schieß mich nicht!« antwortete der Elch, »ich will jedem von euch ein Junges geben, das werden gute Träger sein.«

Gut. Nach einer Weile trafen sie ein Reh. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« »Schieß mich nicht!« antwortete das Reh, »ich will jedem von euch ein Junges geben, das werden gute Läufer sein.« Gut. Nach einer Weile trafen sie einen Hasen. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?«

»Schieß mich nicht!« antwortete der Hase, »ich will jedem von euch ein Junges geben, das werden gute Ausreißer sein.« Nun nahm jeder der beiden Brüder seine Tiere, seine Helfer, und dann gedachten sie sich zu trennen. Aber bevor sie sich trennten, verabrede­ten sie, jeder sein Messer in eine große Eiche zu bohren: Wenn einer von ihnen heimkehrte und fände das Messer des Bruders verrostet, so werde das ein Zeichen sein, dass es dem Bruder schlecht gehe; wäre es dagegen blank, so stehe es natürlich sehr gut. Der ältere Bruder wandte sich seit­wärts, der jüngere ging geradeaus.

Am nächsten Tage kam der ältere Bruder in ein Schloss. Das war ganz ausgestorben, keine lebende Seele war darin bis auf ein Mädchen. »Mägdelein, Schwesterchen, wo sind denn die übrigen Leute?«

»Die übrigen Leute sind einem weißen Elch nachgelaufen und zu Stein geworden. Auch Väterchen ist so fort gegangen.« »Ja, ja, Mädchen, die sind ohne Helfer fortgelaufen, aber ich habe Hel­fer in Hülle und Fülle, da will ich den Elch schon fangen.«

Er ging hinaus, ja, der weiße Elch strich am Schloss vorbei, er eilte des­halb mit seinen Helfern hinterher. Doch plötzlich war der weiße Elch verschwunden. Da schaute der ältere Bruder aufwärts und sah auf einer alten Espe eine garstige Hexe. »Komm herunter, du alte Hexe, sonst schicke ich dir meinen Bären nach, damit er dich fein säuberlich herun­ter trägt.« »Ich komme, ich komme, erlaube mir nur, mit diesem Stäbchen deine Tiere zu berühren, dass sie mich nicht beißen.«

Er erlaubte es. Aber kaum hatte die Hexe sie mit dem Stäbchen berührt, als alle Tiere, alle Helfer mitsamt dem älteren Bruder zu Stein wurden. Nach geraumer Zeit kam der jüngere Bruder zur Eiche zurück und sah, dass seines Bruders Messer ganz verrostet war. Sogleich kehrte er um, seinen Bruder zu suchen, und kam in dasselbe Schloss, wo nur das eine Mädchen drin war.

»Mägdelein, Schwesterchen, wo sind denn die übrigen Leute?« »Die übrigen Leute sind einem weißen Elch nachgelaufen und zu Stein geworden. Einmal ist auch ein Jüngling mit allerlei Tieren als Hel­fern gekommen, der gedachte, den Elch zu fangen, aber umsonst, auch sie sind zu Stein geworden.«

»Das war mein Bruder, das war mein Bruder, wie kann ich ihn be­freien?« »Den Bruder wirst du nicht befreien, bring dich lieber in Sicherheit, und wenn es dir möglich ist, so nimm mich mit. Du weißt ja nicht, mein Lieber, was dort auf der Espe für eine Hexe haust: Mit einem Wort und mit einem kleinen Stäbchen verwandelt sie dich, mich und deine Tiere für alle Zeiten in Steine. Und sie wird sich auch zu rächen suchen, wenn sie erfährt, dass ich dich hier festhalte. Fliehen wir lieber beizeiten!«

Der jüngere Bruder stieg nun auf den Rücken des Wolfes, nahm das Mädchen auf den Schoß und floh. Da erdröhnte die Erde, und die Hexe jagte hinterher. Der jüngere Bruder sah, dass er mit dem Wolf nicht ent­kommen würde, verließ deshalb den Wolf und stieg mit dem Mädchen auf den Rücken des Bären. Aber die Hexe kam trotzdem näher und im­mer näher. Da sprang der jüngere Bruder mit dem Mädchen auf den Rücken des Elchs. Aber die Hexe kam trotzdem näher und immer näher. Das Häschen lief wohl, so schnell es konnte. Das Rehlein rannte immer geradeaus, so schnell es vermochte; das Wölfchen, das Bärchen und das Füchschen setzten über Stock und Stein. Das Lüchschen humpelte im­mer drauflos. Nur Packan, Zerbrich und Splittereisen fletschten ihre Zähne, aber was wollten sie allein machen? Auch der Elch, der Träger, merkte zuletzt, dass die Hexe stärker war als sie alle zusammen. Er sagte daher dem jüngeren Bruder: »Reibe mein rechtes Geweih, dann wird aus ihm eine Hechel entstehen. Die wirf über die linke Schulter, doch schau nicht zurück!« Der jüngere Bruder warf die Hechel über die linke Schulter, und siehe da! Hinter seinem Rücken entstand ein dichter, dichter, schwarzer Wald. Aber die Hexe biss sich auch durch ihn hindurch. Da sagte der Elch zum jüngeren Bruder: »Reibe mein rechtes Geweih, dann wird aus ihm ein Schleifstein entstehen, den wirf über die linke Schulter. Nur schaue nicht zurück.« Der jüngere Bruder warf den Schleifstein über die linke Schul­ter, und siehe da! Hinter seinem Rücken entstand ein gewaltiges hohes Felsengebirge. Doch auch über das Gebirge drang die Hexe hinüber. Da sagte der Elch zum jüngeren Bruder: »Reibe mein rechtes Geweih, dann wird aus ihm ein Tüchlein entstehen, das wirf über die linke Schulter. Nur schaue nicht zurück.« Der jüngere Bruder warf das Tüchlein über die linke Schulter, und siehe da! Hinter seinem Rücken entstand ein Feu­erstrom. Über den Strom konnte die Hexe nicht hinüber. Nun stieg der jüngere Bruder vom Elch und verschnaufte sich. Aber er konnte sich gar nicht lange ausruhen, musste er doch zum Übernachten eine Hütte her­richten. Jetzt waren alle am Werk. Nein, wie flink das ging! Der eine trug herzu, der andere warf, der dritte hob, der vierte streckte, der fünfte schichtete, der sechste deckte.

Als sich alle zur Ruhe gelegt hatten, führte der Elch den jüngeren Bru­der hinaus und sprach: »Jetzt schlachte mich und vergrabe meinen Kopf unter der Schwelle, meinen Rumpf unter der Diele. Hier hast du ein Strumpfband, das hüte wohl. Und wenn du dich einmal aus dieser Hütte entfernst, so schwenke das Strumpfband dreimal von rechts nach links und binde damit meinen Kopf an den Rumpf, so werde ich wieder le­bendig werden.« »Aber sag, lieber Elch, wie soll ich es übers Herz bringen, dich, meinen Retter, zu schlachten?«

»Verlier keine Zeit, ich rate dir doch zum Guten, es soll dein eigener Vorteil sein.« Da tat der jüngere Bruder, wie ihm geheißen war, und legte das Strumpfband ans Fenster. Am Morgen aber kam es ihm in den Sinn, mit seinen Tieren, seinen Helfern, ein wenig zu jagen, um nicht zu frie­ren. Das Mädchen aber blieb zu Hause und bemerkte das Strumpfband. Da dachte sie: >Ein so schönes Band darf man nicht herumliegen lassen, ich will es um meinen Strumpf binden. Doch indem sie ihren Strumpf zuband, schwenkte sie das Strumpf­band von links nach rechts. Im selben Augenblick entstand über den Feuerstrom eine eiserne Brücke, und die Hexe war über den Strom hinüber. Jetzt stürzten sich die Tiere, die Helfer, auf die Hexe. Sie konnte auch wirklich nichts ausrichten, denn ihr Stäbchen hatte sie in der Eile an der Espe vergessen, aber so eine wie sie findet doch immer einen Aus­weg: Eins, zwei, drei ist eine große Grube fertig, und wie nun die Tiere herankommen, stürzt eins nach dem anderen hinein. Und als alle drin­nen auf einem Haufen liegen, legt sie, klauks! eine dicke, dreimalneunfa­che eiserne Tür darüber, und was jetzt? Jetzt ist der jüngere Bruder mit dem Mädchen in der Klemme.

Die Hexe grinste vor Vergnügen und sagte, sie sollten sofort die Bade­stube heizen und sich sauber waschen, dann sollten sie sich ihr Früh­stück bereithalten. Jene heizten nun die Badestube, und die Hexe legte sich derweil in den Sonnenschein. Das Ofengewölbe war aber noch kaum lauwarm, da erschien der Elchkopf und sagte: »Ihr Dummköpfe, was beeilt ihr euch denn so mit dem Einheizen? Packan, Zerbrich und Splittereisen haben eben erst drei Eisentüren durchbrochen, jetzt fackelt man ja recht lange, bis alle Türen erbrochen sind.« Kaum hatte sich der Elchkopf entfernt, da war auch die Hexe zur Stelle. »Ich liege und liege und kann euch nicht erwarten. Wie steht's, ist das Bad bald fertig?«

»Für einen Badenden wäre es so halb und halb gewärmt, für zwei müssen wir noch etwas Holz nachlegen.« »Nun, wenn es sich noch so lange hinzieht, dann will ich gar nicht zwei zum Frühstück.« So sprach sie und ergriff das Mädchen und riss ihr den Vorderzahn aus, der war aus reinem Gold und ein Geschenk der Glücksmutter selbst. Hatte sie aber den nicht im Mund, so musste sie sterben. Und so war es denn auch: Als der Zahn aus dem Mund des Mädchens heraus war, war sie tot. Die Hexe legte sie in einen eisernen Sarg und begrub sie am Kreuzweg. Während sich die Hexe damit ab­mühte, war der Elchkopf wieder zur Stelle: »Packan, Zerbrich und Split­tereisen haben wieder drei Türen erbrochen.« Die Hexe kam vom Be­gräbnis des Mädchens herbeigelaufen und war noch mehr ausgehungert. Sie brüllte: »Heiz schnell, bist du nicht bald fertig, so fresse ich dich ungewaschen.«

»Ich bin gleich fertig, das Wasser muss nur noch etwas wärmer wer­den.« Die Hexe legte sich wieder in den Sonnenschein, da erschien der Elch­kopf abermals: »Packan, Zerbrich und Splittereisen zerbrechen eben die letzten Türen. Warte jetzt nur noch auf deine Helfer.« Es dauerte auch gar nicht lange, da waren alle Tiere zur Stelle. Jedes verbarg sich an sei­nem Ort: das Häschen unter der Bank, das Reh unter der Pritsche, der Fuchs hinter der Tür, der Wolf im Zuber, der Bär im Ofenwinkel, der Luchs in der Darrenluke, Packan, Zerbrich und Splittereisen und der jüngere Bruder im Ofenloch. Kommt nach einer Weile die Hexe und brüllt: »Ist es nun endlich soweit?«

»Jawohl, komm nur herein.« Tschiks! Da öffnet sich die Tür, und die Hexe schleicht herein. Nun gab es was zusehen. Packan packte zu, Zerbrich riss, Splittereisen fetzte, der Bär sengte, der Wolf zerriss, der Fuchs biss, der Luchs kratzte, das Reh feuerte aus, der Hase lief, und der jüngere Bruder schlug mit dem Gießeimer drauflos. Aber der Hexe ganz das Licht ausblasen konnten sie doch nicht. Denn die Tür zur Badestube war offen geblieben, und so konnte sie entwischen.

Jetzt waren alle froh. Als aber der jüngere Bruder vom Mädchen zu erzählen begann, wurden die fröhlichen Gesichter wieder betrübt, und alle unternahmen es einmütig, das Mädchen aufzusuchen. Das Häschen sprang voran, der Wolf und der Hund schnupperten nach ihrer Spur, und sieh da! Sie schnupperten so lange, bis sie die Spur gefunden hatten. Der Luchs und das Reh scharrten sogleich den eisernen Sarg heraus, der Bär hob ihn hervor, Packan, Zerbrich und Splittereisen erbrachen den eisernen Deckel, und der Fuchs, der Heilkünstler, fand unter ihrem Kopf den goldenen Zahn. Der jüngere Bruder fügte nun den Zahn in die Lücke, und das Mädchen wurde zusehends wieder lebendig und gesund. Danach riefen alle durch das Strumpfband auch noch den Elch wieder ins Leben zurück, und dann ritten sie ebenso, wie sie her geritten waren, ins Schloss zurück. Unterwegs sagte der schlaue Fuchs: »Alles können wir aufspüren, nur das eine haben wir damals nicht erschnüffeln kön­nen, dass die Hexe ihr Stäbchen auf der Espe vergessen hatte. War es nötig, dass wir soweit flohen?« »Einerlei«, antwortete der Elch, »jetzt wollen wir der Hexe befehlen, ohne ihr Stäbchen von der Espe herabzusteigen, und gehorcht sie uns nicht, stürzen wir die Espe um.«

Gut. Sie kommen zur Espe. Die Hexe hockt wie ein Heuschober und ächzt: »Mich friert, mich friert. Lasst mich hinuntersteigen, mich zu wär­men: Aber erlaube mir, deine Tiere mit dem Stäbchen zu berühren, da­mit sie mich nicht beißen.« Der jüngere Bruder aber achtete gar nicht auf ihr Jammern, sondern sagte: »Kommt nicht mit dem Stäbchen herunter, sondern sag uns zu­erst, was das für Steine sind.«

»Das sind Mensch und Tiere.« »Nun gut, wenn es Menschen und Tiere sind, wie ruft man sie ins Le­ben zurück?« Sie wollte es auf keinen Fall sagen, da drohten sie, die Espe umzustürzen.

»Stoßt sie nicht um, stoßt sie nicht um, ich will es euch sagen: Nimm etwas vom vermoderten Holz der Espe und streu es auf die Steine, so werden sie lebendig werden.« So geschah es. Da erschienen Menschen, da erschienen auch der ältere Bruder, ferner die Tiere, seine Helfer, Vater und Mutter des Mädchens und alle ihre Untertanen. Da gab es einen Auflauf, ärger als auf dem Jahrmarkt. Dann umringten alle die Espe und stürzten sie mitsamt der Hexe zu Boden. Im Fallen fand sie weder Zeit, jemand mit ihrem Stäb­chen zu berühren noch die Hand zu heben. Alle Tiere überfielen sie und rissen sie in Stücke. Der jüngere Bruder heiratete das Mädchen und lebte mit dem älteren Bruder in Liebe und Eintracht im ererbten Schloss. Der Vater des Mädchens aber übergab dem Schwiegersohn die Herrschaft.