Der Furchtlose

sorbisch/wendisches Märchen 

Es war einmal ein starker Junge, der wusste nicht, was Furcht war. Da sagte ihm jemand bei einem Schullehrer, der irgendwo wohnte, könnte er es lernen. Denn wenn da einer im Kirchturm läuten täte, scheuchte (spukte) es sehr. So ging er hin und der Lehrer schickte ihn zum Läuten. Am ersten Morgen war großer Lärm in der Kirche; grüne »Kerle« waren da, schoben Kegel mit Menschenköpfen und hatten Menschenbeine als Kegel. Und kullerten so lange, bis die Stunde vorbei war. Dann wollten sie weg, doch er ließ sie nicht fort. »Ich habe mein ganzes Geld bei Euch verspielt, ich lasse Euch nicht heraus«. Da griffen sie ihm an den Arm und sagten: »Hier hast Du eine Schippe und grabe Dir Dein Geld heraus«. Dann grub er und holte einen großen Kasten Geld heraus. Den trug er zum Lehrer, und der sagte: »Wir wollen uns das Geld teilen«. Aber der Junge wollte nichts haben. »Ich habe keine Furcht gelernt, ich mag nichts haben«. So schickte der Lehrer die Hälfte des Geldes an des Furchtlosen Vater.

Und der Junge reiste in ein anderes Land, um Furcht zu »lernen« und fragte überall, wo er sie lernen könnte. So schickten ihn die Leute in ein verwünschtes Schloss, worin es niemand aushalten konnte; da sollte er wachen. Er kriegte ein Licht und nahm ein altes Gebetbuch mit. Da kamen in der zwölften Stunde vier schwarze Kerle, die sagten: »Was hast Du hier zu suchen?« – »Was habt Ihr hier zu suchen? Ich war eher hier wie Ihr«. In der zweiten Nacht ging er wieder ins Schloss. Mehrere Kerle kamen und wollten ihn fortjagen. Doch er ließ sich nichts sagen, fing an sich mit ihnen zu »keilen« (prügeln) und schlug sie alle ab, weil er ein eisernes Grabkreuz bei sich hatte. In der dritten Nacht kamen zwölf schwarze Kerle, die sagten: »Was willst Du hier?« – »Ich war eher wie Ihr hier und habe mehr Recht«. Die fingen an sich mit ihm zu prügeln und er »schlug« alle »ab«.

Wie die Stunde vorbei war, waren alle verschwunden. Dann wurde in der Esse1 ein großer Sturm, und wie er nach dem Lärm sah, fand er einen halb geräucherten Menschen. Den packte er an und sagte: »Gut, dass Du hier bist, aber schade! Bloß eine Hälfte, wär' die andere hier, wären wir zwei«. Nach einer Weile wurde wieder großer Sturm in der Esse, und als er nachsah, fand er die andere Hälfte vom Kerl, stellte beide Hälften zusammen und sagte: »Gut so, nun werden wir bald zwei sein«. Bald darauf fing der Getrocknete [Geräucherte] an sich zu bewegen und zu sprechen, denn er war da verwünscht gewesen. Nun war der Furchtlose fröhlich. Das ganze Schloss und Geld wurden sein, weil er den Verwünschten erlöst hatte. Er sollte da bleiben, wollte aber nicht, weil er keine Furcht gelernt hatte.

So ging er weiter und kam zum Nachbarschloss. Und der Nachbarkönig wollte ihn da behalten, weil er das andere Schloss erlöst hatte. Doch der Furchtlose wollte nicht, weil er noch keine Furcht gelernt hatte. Aber sie baten2 ihn so lange, dass er das Freudenfest mitfeierte, bis er blieb. Dabei kamen auf den Tisch zwei verdeckte Schüsseln, wie noch in Schleife die Sitte ist bei Hochzeiten3. Und er war neugierig, hob sie auf und hielt sich die Schüsseln vor die Nase. Da flog ein Sperling heraus und ihm gegen das Gesicht, sodass er vor Schreck die Schüsseln fallen ließ. Dann blieb er da, weil er Furcht gelernt hatte. S. I, 61.

Fußnoten

1 Feueresse, Rauchfang, hugeń.

2 Wendisch: bettelten, denn pŕosyć ist mehr bitten im Sinne von: betteln.

3 Eine Hochzeit dort dauert zwei Tage. Am ersten Tage findet die Trauung und dann das Hochzeitsmahl im Hochzeitshause statt. Darnach gehen die Hochzeitsleute zu Tanze in die Schenke, tanzen die ganze Nacht hindurch und gehen am folgenden, dem zweiten Hochzeitstage, wiederum zum Schmause nach dem Hochzeitshause. Wenn sie dann vom Tanze zurückkommen, nehmen die družka's (Brautjungfern) der Braut den linken Schuh weg und verstecken ihn. Dann müssen die Junggesellen (von der Hochzeitsgesellschaft) ihn suchen und so lange sitzt die Braut ohne den Schuh bei Tische. Haben sie ihn schließlich gefunden, so geben sie ihn nicht eher wieder heraus, bis sie von den družki eine Schüssel mit Äpfeln bekommen. Dabei werden aber zwei Schüsseln mit je einer anderen verdeckt, und in die eine Äpfel, in die andere ein lebendiges Tier, eine Katze, ein Kaninchen oder dergl. getan. Dann müssen die zagolce raten, in welcher die Äpfel sind. Decken sie nun die falsche Schüssel auf, so springt vor ihnen das Tier heraus und das erregt große Heiterkeit.

Quelle:

Schulenburg, Willibald von: Wendisches Volksthum in Sage, Brauch und Sitte. Berlin: Nicolai, 1882, S. 25-26.

Permalink:

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