Der Schatten

Vietnamesisches Märchen

Es lebte einmal eine Frau, deren Mann war als Soldat auf einen Grenzposten geschickt worden — weit im Land, wohin man geht, wenn man flussaufwärts wandert. Zu jener Zeit waren die Verbindungen sehr schlecht, und so erhielt die Frau nur spärliche Nachrichten während der drei Jahre, die er in der Ferne verbrachte.
Als sie eines Abends unter der Lampe nahe bei ihrem schlafenden Kinde saß und nähte, zog ein Gewitter auf. Ein Windzug löschte die Lampe, der Donner rollte, das Kind erwachte. Es bekam Angst und begann zu weinen. Die Mutter zündete den kleinen Docht, der im Öl eingetaucht lag, wieder an. Auf ihren Schatten an der Wand weisend, sagte sie: »Fürchte nichts, mein Kleines, Vater ist da, er wacht über dich. «
Das Kind sah den Schatten und hörte auf zu weinen. Am nächsten Tag, als das Kind zu Bett ging, verlangte es wiederum seinen Vater zu sehen. Die Mutter lächelte glücklich und stellte sich so, dass ihr Schatten von ihrem Sohn gesehen werden konnte. Sie lehrte ihn, die Hände zu kreuzen, bevor er sich vor dem Schatten verneigte und »Gute Nacht, mein Vater« sagte.
Das wurde schnell zur Gewohnheit, und jeden Abend vollzog sich der Ritus aufs Neue. Wenn das Kind schlief, wachte die Mutter noch lange in der Nacht allein mit ihrem Schatten. Ihr Mann kehrte zurück. Sie sah ihn, wagte aber nicht, ihn zu begrüßen, und fand weder Geste noch Wort, die ihre Freude hätten ausdrücken können. Als er sich ihr jedoch näherte, sah er eine Träne über ihr ruhiges Gesicht rollen. Heimlich trocknete sie die Träne ab, und er hörte die geliebte Stimme: »Wir müssen den Ahnen ein Opfer bringen. Ich besorge es, und du versorgst unser Kind. «
Während ihrer Abwesenheit wurde der Mann schnell mit seinem Sohne vertraut. Aber als der Sohn ihn Vater nennen sollte, weigerte sich das Kind und sagte:
»Nein, du bist nicht mein Vater. Jeden Abend, wenn ich zu Bett gehe, sage ich >Gute Nacht< zu meinem Vater. « Das Missverständnis war sehr verhängnisvoll, und der Mann litt sehr darunter. Da er zu fein und zu stolz war, seine Frau zu fragen, quälte er sich nur noch mehr.
Eines Tages, gleich nach ihrer Rückkehr vom Markt, fühlte sie, dass das Unglück unter ihr Dach gekommen war — unabwendbar. Ihre zärtlichsten Worte und ihre geringsten Gesten machten ihn nur noch erbitterter: er wandte sich stets ohne Antwort ab. Obwohl er hoffte im Irrtum zu sein, zürnte er ihr wegen des Schweigens, das er hartnäckig bewahrte, so sehr er sich auch bemühte, ein lösendes Wort zu finden. Er versäumte auch nicht, sich flehend vor den Manen der Ahnen niederzuwerfen; aber er faltete nach dem Gebet sofort seine Matte, damit seine Frau die Riten nicht vollziehen könne. Sie hielt die Tränen der Demütigung zurück, die ihr in die Augen stiegen.
Als sie das Mahl vom Altar nahm und ihm kochenden Reis vorsetzte, berührte er die Stäbchen nicht. Der Reis wurde langsam kalt in der Schüssel; sie wartete schweigend, und ihr Schmerz kannte keine Grenze mehr. Plötzlich erhob sich der Mann und verließ ohne ein Wort das Haus. Eine Zeitlang klammerte sie sich an die leise Hoffnung, er könnte zurückkehren. Dann aber wurde ihr Schmerz so stark, dass sich die arme Frau in den Fluss warf.
Als der Mann von ihrem Tod erfuhr, erschütterte der Zweifel seinen ungerechtfertigten Argwohn. Er kehrte zurück. Am Abend zündete er die Lampe an, die seinen Schatten an die Wand warf. Zu seiner großen Überraschung sah er seinen Sohn die Hände kreuzen und sich vor dem Schatten verbeugen.
Zu spät erkannte er seinen unheilvollen Irrtum. Er ließ einen Altar am Ufer des Flusses errichten, und während dreier Tage und Nächte wurde für die Seele der Unschuldigen gebetet. Er konnte sich nur in das Unabwendbare fügen, und bis zu seinem letzten Tag blieb er dem Andenken der Entschwundenen treu.