Der Tod in der Rose

Jüdisches Märchen

Eines Nachts hatte Rabbi Löw einen fürchterlichen Traum. Er sah, wie der Todesengel mit seinem Schwert ein Mitglied seiner Gemeinde nach dem andern dahinraffte. Als er gerade zum Streiche gegen seinen besten Freund ausholte, schrie Rabbi Löw auf und erwachte aus seinem Schlaf. Schaudern erfasste ihn. Wie ein Fieberschauer durchrieselte es ihn. Vor sich glaubte er eine Blutlache zu sehen von dem Blut der Erschlagenen seiner Gemeinde. Schnell kleidete er sich an und eilte in die Synagoge. Vor der heiligen Lade warf er sich nieder und betete in inbrünstigem, heißem Flehen zu Gott. Dann erhob er sich, um sich wieder zu entfernen. Doch aufs Neue ergriff ihn ein banges Schauern. Vor sich sah er auf dem Lesepult, dem so genannten Almemor, den Todesengel stehen, in seiner Hand eine Pergamentrolle mit einer langen Liste haltend. Nur einen Augenblick schwankte Rabbi Löw, was er tun sollte. Dann sprach er den geheiligten Gottesnamen aus, stürzte sich mit aller Kraft auf den Todesengel, riss ihm die Pergamentrolle aus der Hand und eilte nach Hause. Dort las er alle Namen der Mitglieder seiner Gemeinde auf ihr, die also dem Tode geweiht waren und die er nun der Macht des Todesengels glücklich entrissen hatte.

Nur oben an der Rolle fehlt ein kleines Stück. Die Rolle war hier abgerissen. Das Stückchen, auf dem offensichtlich noch sin Name stehen musste, war in des Todesengels Hand zurückgeblieben. Der Rabbi sann und sann. Es wollte ihm nicht einfallen, wessen Name es wohl sein könne. Nach einigen Tagen brach die Pest aus. Tausende von Menschenleben wurden dahingerafft. Doch vor den Toren des Gettos machte die schreckliche Krankheit Halt. Ein Tag nach dem anderen verstrich. Die Gemeinde, für die der wackere Hirt treulich gesorgt hatte, war gerettet. Doch am achten Tage erkrankte Rabbi Löw selbst. Sein eigener Name war es, der in des Todesengels Hand zurückgeblieben war. An sich hatte der Brave nicht gedacht. Rabbi Löw war zwar erkrankt, aber der Todesengel konnte an ihn nicht herankommen. Der Maharal hatte eine solche mystische Kraft, dass er nicht nur toten Dingen Leben einhauchen konnte, sondern dass selbst der Tod sich vor ihm fürchtete und nicht wagte, in seiner wirklichen Gestalt an ihn heranzutreten. Wenn der Rabbi Löw dem Todesengel in die Augen sah, erstarrte dieser vor Schreck und konnte sich ihm nicht nähern.

Da versteckte der Tod sich in einer Rose. Nichts Böses ahnend pflückte eine Enkelin Rabbi Löws diese Rose und überreichte sie ihrem Großvater. Der sog den vollen Duft der Blume und zugleich den Tod ein. Er sank leblos zu Boden. Dreihundert Jahre später fertigte der tschechische Maler Mikolas Ales eine Zeichnung von dieser Rose an. Diese Zeichnung war so naturgetreu, dass der Maler sagte: »Eigentlich sollte auch ich an ihr riechen.« Er roch an ihr und sagte zu den Umstehenden: »Ich habe jetzt einen wunderbar guten Duft verspürt.« In diesem Augenblick tat er den letzten Atemzug. (»Informationsbulletin«, herausgegeben vom Rat der jüdischen Gemeinden in der tschechischen sozialistischen Republik. Prag, Nr. 3, 1973

- Im Jahre 1918 errichtete die Stadt Prag dem jüdischen Gelehrten ein Denkmal. Auf einem Sockel sieht man die hohe Gestalt. Seine Enkelin überreicht ihm die Blume, die ihm den Tod bringen sollte. [M. Steinhardt, in »Das jüdische Jugendbuch«, Weltverlag, Berlin 1920, pag. 83].