Die sieben Frauenbilder und der König der Toten

aus Niedersachsen

Es war einmal ein König, der hatte noch nicht lange regiert, da kam in der Nacht eine Erscheinung an sein Bett und redete ihm zu, dass er aufstehen und ihr nachfolgen solle. Er aber blieb ruhig liegen. Die Erscheinung kam in der nächsten Nacht wieder, er erhob sich auch jetzt nicht von seinem Lager, und so kam sie auch in der dritten Nacht. Da ist der junge König schon munter, als sie kommt, denn er hat über die Sache nachgedacht und ist entschlossen, ihr zu folgen. Wie der König sich ankleidet, spricht sie: Er solle auch Hacke und Geschirr mitnehmen, denn er müsse an einem großen freien Platze etwas aufroden. Der König sucht in seinem Schloss das Geschirr, nimmt es über die Schulter und folgt der Erscheinung. Die führt ihn auf einen großen freien Platz und weist ihn an, dort aufzuroden. Der junge König, der sehr stark gewesen ist, beginnt mächtig mit Hacke und Schaufel zu arbeiten, und in großen Tropfen rinnt ihm der Schweiß von der Stirn. Endlich stößt er auf große Eichenbohlen, die er nicht heben kann, und da blickt er zum ersten Mal von seiner Arbeit auf, um die Erscheinung zu fragen, was er nun tun soll, aber die ist verschwunden.

In tiefen Gedanken geht der König aufs Schloss zurück und schickt zu dem alten treuen Diener seines Vaters. Der war nach dem Tod des alten Königs in die Stadt hinuntergezogen, und da lebte er behaglich von dem Geld, dass ihm ausgesetzt war, wie nun so ein alter treuer Diener auf seine letzten Tage von seinem Gnadengehalt lebt. Der alte Diener kam am Stab dahergewankt und sagte auf Befragen darüber, was wohl die Ursache der Erscheinung gewesen wäre, aus, dass der ver­storbene König Freundschaft mit dem König der Toten ge­habt und ein Vermächtnis mit ihm gestiftet hätte und dass damit die Erscheinung zusammenhängen werde. Wenn der junge König ihm folgen wolle, so getraue er sich wohl noch, den Weg zu dem Schloss zu finden, wo der König der Toten wohne, denn er habe seinen Vater oft dahin begleitet. So ging der junge König zu dem König der Toten, und der alte Diener hinkte am Stabe als Wegweiser neben ihm her. Durch Wildnis, Gestrüpp und Dornenhecken gelangten sie zu dem alten verfallenen Schloss, wo der König der Toten wohnte. Da sah es aus wie in einem verwünschten Schloss, es war alles mit Moos bewachsen, der Wallgraben und das Tor, das alte verfallene Schloss selber mit dem Burgturm, der Hausflur, der Rittersaal, alle Zimmer, die Stühle und Tische darin, die Leuchter, ja selbst die Weinkannen und das andere Geschirr, das da umherstand. Es war aber kein verwünschtes Schloss, denn der König der Toten ging darin umher als Hausherr, kam auf sie zu und fragte nach ihrem Begehren. Sie sahen sogleich, dass er bei guter Laune war, und wie der junge König erzählt hatte, was ihm begegnet war, sagte er: Die Erscheinung sei der Geist seines Vaters gewesen, der habe einen großen Schatz unter seine Gewalt gegeben, den solle der Sohn nach seinem Tode auslösen, und wenn sie ein wenig warten wollten, so wolle er sogleich einen Spiegel herbei­holen, dessen er dabei bedürfe.

Hierauf verlässt der König der Toten sie auf kurze Zeit und kommt dann mit dem Spiegel wieder zurück. Jetzt eröffnet er dem jungen König, es wäre ein unermesslicher Reichtum in dem Schatz, den sein Vater ihm habe aufheben lassen. »Es sind sechs große weibliche Bilder von Gold«, sprach er. »Das Siebente aber musst du, König, zuvor selbst dazusuchen, ehe du die sechs goldenen Frauenbilder erhältst, und es muss schöner und besser sein als die sechs goldenen. Nimm den Spiegel und gehe in die Welt, und triffst du ein Mädchen an, das schön ist und dir gefällt, so blicke in den Spiegel. Der Spiegel zeigt sie dir dann ganz, wie sie ist, und hat sie nur einen einzigen Fleck am Körper, so bring sie nicht her, sonst kostet es dich dein Leben. Ist ihre Schönheit aber ganz fleckenlos, so führe du sie zu mir als das siebente und schönste Frauen­bild.« Darauf ging der junge König mit dem getreuen Diener seines Vaters aus dem moosbewachsenen Schloss. Vor dem Tor trennten sie sich voneinander; der alte Diener wankte in seine Stadt zurück, und der junge König zog in die weite Welt, und da ist er weit und breit umhergezogen, hat viele Frauen angetroffen, die ihm sehr wohl gefallen haben, und hat er dann in den Spiegel geschaut, so hat jede ihren Fleck ge­habt. (Ein Donnerwetterspiegel, dass der die Flecke gezeigt hat!)

Endlich, als der König nun schon weit umhergereist ist und keine getroffen hat ohne Fleck, kommt er eines Abends spät vor ein Dorf. An dessen Ende auf der Anhöhe vor dem Ort sieht er schon von Ferne ein Licht brennen, geht darauf zu und bittet um ein Nachtquartier, was ihm auch mit Freuden gewährt wird. In diesem Haus wohnte der Dorfhirte, der hatte eine Tochter von achtzehn Jahren. Die Leute tragen Milch und Brot auf, das schmeckt dem König, der sehr ermüdet gewesen ist, köstlich. Da tritt die Tochter des Hirten herein, die war so wunderschön von Antlitz und Gestalt, das der König sich sofort in sie verliebte. In der Frühe des andern Morgens, noch ehe der Hirt aufgestanden ist, um das Vieh auszutreiben, blickt er schon in seinen Spiegel, und siehe da! der Spiegel zeigt ihm, dass die Schönheit der Hirtentochter fleckenlos ist. Da hält er sogleich bei dem Hirten um sie an und bittet, dass dieser seine Tochter mit ihm ziehen lassen möge. Der Hirt glaubt anfangs, der König wolle ihn spotten, der aber versichert, dass er keine Sorge zu tragen brauche. Da gibt der Hirt ihnen den Segen, und sie gehen miteinander in das Schloss zum König der Toten. Der nimmt die Hir­tentochter bei der Hand, führt sie in die Gemächer seines Hauses ein und spricht zum König: »Jetzt gehe wieder hin und grabe den Schatz vollständig aus.«

Und wie der junge König wieder auf den Platz kommt, vermag er die Bohlen mit leichter Mühe zu heben, als ob es Federn gewesen wären. Als er sie abgeworfen hat, steigt er in ein Gewölbe, das die Bohlen verdeckt haben, und das Ge­wölbe glänzt von Gold, Silber und Edelgestein. In dem Ge­wölbe steht auch ein kleiner kostbarer Tisch, darauf liegen ein Schlüssel und ein kleines sauberes Briefchen. Der junge Kö­nig erbricht den Brief und darin steht, alles Gold, Silber und Edelgestein in diesem Gewölbe sei für ihn aufgehoben, einen noch größeren Schatz aber werde er finden, wenn er mit dem Schlüssel, der auf dem Tische läge, die Tür aufschlösse, die er in dem Gewölbe sähe. Der junge König küsste diesen Brief, den sein Vater vor seinem Ende an ihn geschrieben hatte, nahm den Schlüssel und schloss die Tür auf.

Sowie er in das Zimmer eintritt, sieht er da die sechs goldenen Frauenbilder stehen, die nun ihm gehören und prächtig glän­zen. Mancher Mann, der hier hergeführt wäre, hätte gewiss geglaubt, etwas Schöneres gäbe es nicht auf der ganzen Welt, denn schon manchen hat das Gold auf Erden verblendet. Und so stand auch der Königssohn einen Augenblick wie geblen­det vor den goldenen Frauenbildern, die mehr wert waren als alle die Schätze seines Reichs, und die ihn anschauten, als würben sechs stolze Königstöchter um seine Gunst und jede wollte ihm ein ganzes Königreich bringen mit ihrer kalten Hand. In demselben Augenblick aber öffnet sich auch eine andere Tür desselben Zimmers, und der König tritt ein. Er führt die Hirtentochter am Arm und spricht zu dem jungen König:

»Hier empfange zu den sechs goldenen Frauenbildern das siebente Frauenbild, und freue dich mit ihm, denn es ist viel schöner als sie.« Da empfing der junge König seine Gattin aus der Hand des Königs der Toten und pries die Weisheit seines Vaters, weil er das lebende Frauenbild weit über die sechs goldenen gesetzt und ihm die sechs goldenen Bilder erst für die Zeit bestimmt hatte, wo er das lebende gefunden hatte. Nun heiratete er die Hirtentochter und nahm die sechs golde­nen Frauenbilder als Dienerinnen mit ins Schloss.