Maria Roseta

Spanisches Märchen – Katalonien

Es war einmal ein junger König, der noch Junggeselle war. Er hatte aber große Lust zu heiraten und sann Tag und Nacht nach, wie wohl die Prinzessin beschaffen sein müsse, der er die Hand reichen wolle. Nach langem Hin und Her dachte er: >Es wird wohl das Beste sein, wenn sie eine gute Tänzerin ist; denn wenn man uns eines Tages bedrängen sollte und wir durchs Fenster fliehen müssen, muss sie sehr leichtfüßig sein, um herunterspringen zu können.<

Er ließ also im ganzen Land verkünden, dass er sich verheiraten wolle; das Mädchen jedoch, das sich mit ihm vermählen wolle, müsse eine Aufgabe lösen: er würde mitten auf dem Platz vor seinem Schlosse ein Bett ganz aus Rosen errichten lassen, und das Mädchen, das über dies Bett springen könne, ohne eine Rose oder ein Blatt zu knicken, solle Königin werden.

Auf diesen Aufruf eilten Tausende von Mädchen herbei, alte und junge, reiche und arme, schöne und hässliche, gute und böse; und alle versuchten den Sprung über das Rosenbett. Aus aller Welt strömten sie herbei, und die Probe dauerte schon Monate, aber keiner wollte es gelingen, über das Bett zu springen, ohne eine Rose oder ein Blatt zu knicken. Die ganze Stadt kam täglich vor dem Palast des Königs zusammen, um sich an dem Schauspiel zu weiden, und man konnte sich nicht satt sehen, denn es gab immer zu lachen, wenn ein Mädchen einen zu kurzen Sprung tat. Die armen Dinger, welche Bräute des Königs werden wollten, wurden arg verspottet. Da geschah es eines Tages, dass eine junge Witwe kam, die hatte — so jung sie war — schon ihren Gatten verloren. Sie war schnellfüßig und leicht, nahm einen langen Anlauf, steigerte sehr schnell ihre Schritte und sprang mit einem großen Satz so über das Bett hinweg, dass sie weder Rose noch Blatt auch nur berührte. Kaum hatte sie jedoch den Sprung ausgeführt, da enteilte sie glatt und gewandt allen Umstehenden, verschwand in der Menge, die vergeblich nach ihr haschte, lief auf Umwegen zu ihrem Hause zurück, verschloss die Tür mit sieben Siegeln und sieben Schlössern und ging nie mehr aus, außer zur heiligen Messe.

Der König war zunächst sehr zufrieden, als er sah, dass sich endlich eine Springerin eingestellt hatte, die mit Geschick und Grazie über das Bett zu springen verstand; als das Mädchen jedoch enteilt war, schickte er seine Diener aus, die sollten es zu ihm bringen. Aber die Diener suchten hier und suchten da — such auch du mit! —, ohne die leichtfüßige Springerin finden zu können und ohne jemand zu treffen, der ihnen hätte sagen können, wo sie wohne. Da sagte der König: »Jene war die einzige, die zu springen verstand; sie soll meine Hand bekommen, und ich werde mich mit keiner anderen vermählen. Eines Tages werde ich sie schon finden und erfahren, wer sie ist. « Und es geschah, dass jene junge Witwe, als ihre Zeit kam, ein Mädchen gebar, das nannte sie Maria Roseta. Das Kindchen war sehr hübsch und lieblich, noch viel schöner, als ihre Mutter war, und auch die hätte man gewiss nicht hässlich nennen können. Als das Mädchen größer wurde, schickte die Mutter es in die Schule, und sie war die beste und fleißigste Schülerin unter allen, welche die Lehrerin hatte. Eines Tages ging der König nahe bei der Schule vorbei, schaute durchs Fenster und sah die liebliche Mädchenschar, da trat er ein, um sie näher zu besehen. Alle mussten ihm Geschichten erzählen, Lieder vorsingen und Rätsel aufgeben, und der König war mit allen außerordentlich zufrieden, so dass er ihnen versprach, er werde wiederkommen und ihnen eine goldene Kette mitbringen, für jedes Mädchen eine. Maria Roseta freute sich darüber sehr, und als sie nach Hause gekommen war, erklärte sie ihrer Mutter alles, was sich zugetragen hatte. Die Mutter aber sagte zu Maria Roseta: Wenn der König wiederkehrt und dir die goldene Kette geben will, dann sag zu ihm, dass du keine brauchst, weil ich dir eine geben werde, die viel schöner und wertvoller ist als die seine. Und wenn er dich dann fragt, woher und wie das sein soll, dann antworte ihm:

>Ich bin Maria Roseta,
Mein Vater ist ein Rosenstrauch,
Die Mutter lebt als Rose auch,
In der Rosenstraße steht mein Heim,
Im Rosenhaus leb' ich allein. <«

Und sie gab ihr eine goldene Kette, damit sie in der Schule ruhig sitzen konnte. Nach einigen Wochen kam wirklich der König und mit ihm eine ganze Schar Diener, welche die goldenen Ketten trugen. Und der König begann, die goldenen Ketten auszuteilen, und schenkte jedem Mädchen eine. Wie er zu Maria Roseta kam, sagte die, sie wolle keine Kette, denn sie hätte schon eine schönere von ihrer Mutter bekommen. Da wunderte sich der König sehr und fragte, wer sie sei und woher sie die Kette habe.

»Ich bin Maria Roseta,
Mein Vater ist ein Rosenstrauch,
Die Mutter lebt als Rose auch,
In der Rosenstraße steht mein Heim,
Im Rosenhaus leb' ich allein. «

Der König war durch diese Antwort so überrascht, dass er mit der Kette, die er hatte Maria Roseta schenken wollen, in seinen Palast zurückkehrte.

Nach einer Reihe von Tagen ging der König wiederum in die Schule, und alle Mädchen mussten ihm neue Geschichten erzählen, Lieder singen und Rätsel aufgeben. Audi diesmal war der König sehr zufrieden mit den Mädchen, und er versprach ihnen, er werde einer jeden ein goldenes Nadelkissen mitbringen. Maria Roseta berichtete zu Hause ihrer Mutter vom Besuch des Königs und von seinem Versprechen, und die Mutter gab ihr ein goldenes Nadelkissen, das war noch schöner als das, welches der König verteilen würde. Und sie sagte dem Mädchen, wenn der König sie frage, solle sie antworten wie das letzte Mal. Nach einigen Wochen kam der König wirklich wieder mit seinem Gefolge in die Schule und beschenkte jedes Mädchen mit einem goldenen Nadelkissen. Als er zu Maria Roseta kam, wollte sie keines haben und wies ihres vor. Das war in der Tat viel schöner als die Kissen, welche der König verteilte. Da wurde der König erzürnt und fragte sie, woher sie das Kissen habe, wer sie sei und wo sie wohne. Sie antwortete ihm:

»Ich bin Maria Roseta,
Mein Vater ist ein Rosenstrauch,
Die Mutter lebt als Rose auch,
In der Rosenstraße steht mein Heim,
Im Rosenhaus leb' ich allein. «

Der König war wie vor den Kopf geschlagen, verdrießlich kehrte er der Schule den Rücken und ging mit dem goldenen Nähkissen, das Maria Roseta verschmäht hatte, zurück zu seinem Palast.

Einige Wochen darauf ging der König ein andermal in die Schule, und die Mädchen mussten ihm von neuem Geschichten erzählen, Lieder vorsingen und Rätsel aufgeben. Der König war mit allen außerordentlich zufrieden, und er versprach ihnen, er werde einer jeden ein goldenes Nadelbüchschen mitbringen. Maria Roseta eilte schnell nach Hause und erzählte alles ihrer Mutter. Die Mutter holte schnell ein goldenes Nadelbüchschen, das war schöner, als das sein konnte, das der König den Mädchen versprochen hatte. Dann befahl sie Maria Roseta, dem König wieder so zu antworten wie die letzten Male.

Nach einigen Wochen ging der König mit großer Genugtuung in die Schule, denn er war überzeugt, so schöne Nadelbüchsen wie die seinen könnten die Mädchen noch nie gesehen haben. Wiederum beschenkte er reihum alle Kinder, doch als er zu Maria Roseta kam, da hatte diese eines, das war noch schöner als sein eigenes. Aufgebracht fragte er, woher sie es habe, wie sie heiße und wo sie wohne. Maria Roseta antwortete:

»Ich heiße Maria Roseta,
Mein Vater ist ein Rosenstrauch,
Die Mutter lebt als Rose auch,
In der Rosenstraße steht mein Heim,
Im Rosenhaus leb' ich allein. «

Da wurde der König so wütend, dass er ihr das goldene Nadelbüchschen mit sämtlichen Nadeln an den Kopf warf, so dass alle Nadeln im roten Haar Maria Rosetas steckenblieben. Das arme Mädchen verbrachte den ganzen Morgen damit, die Nadeln aus dem Haar zu ziehen. Aber eine Nadel saß ganz dicht an der Kopfhaut, so dass Maria Roseta sie nicht fassen konnte. Da ging sie mit der Nadel im Haar nach Hause. Unterwegs jedoch begegnete sie einer alten Frau, die war eine böse Hexe. Ohne an Arges zu denken, bat Maria Roseta die Frau, sie möchte ihr doch die Nadel aus dem Haar ziehen. Die jedoch stieß ihr die Nadel in den Hinterkopf, und da wurde Maria sogleich in eine Taube verwandelt.

Als das arme Mädchen merkte, dass es zur Taube geworden war, wusste es nicht, was es tun sollte. Sie flog hin und flog her, schließlich wandte sie sich dem Palast des Königs zu. Lange musste sie warten, bis sie endlich Gelegenheit fand, mit den Dienern einzutreten. Sie flog in den Saal des Königs, und dem gefiel die hübsche Taube, so dass er sie auf seiner Schulter sitzen und von seinem Teller essen ließ.

So vergingen sieben Jahre. Der König dachte oft daran, sich zu vermählen, er hoffte immer, jenes Mädchen, das über das Rosenbett gesprungen war, würde sich eines Tages doch finden lassen. Da sich jedoch dieses Mädchen nie zeigte, wandten sich die Ältesten des Hofes eines Tages an den König und sagten: »Herr, es ist Zeit, dass du dir eine Gattin suchst; denn wenn du stirbst, ohne Erben zu haben, wird es viel Streit und Mühe kosten, einen neuen Träger der Krone zu finden.« Da glaubte der König, er müsse diesem Rat folgen, und da er im eigenen Land kein Mädchen gefunden hatte, ließ er den Kapitän seines Schiffes rufen und befahl ihm, ins benachbarte Königreich zu fahren. Der Seemann ließ sogleich das Schiff zurüsten, und am andern Morgen begab sich der König mit sieben seiner klügsten Gefolgsleute auf das Schiff und wollte abfahren. Aber das Schiff bewegte sich auch nicht eine Handbreit. Da fragte der Kapitän den König und seine sieben Begleiter, ob sie nichts vergessen hätten. Alle dachten hin und dachten her — denk auch du nach! —, aber es fiel ihnen nichts ein. Endlich gab sich der König einen Schlag auf die Stirn und sagte: »Schau, das bin ja ich, der etwas vergessen hat! Ich wollte doch noch meine Taube fragen, ob sie mit uns mitkommen will ins Land der schönsten Mädchen! « — »Dann geh, Herr König«, sagte der Kapitän, »und frage sie, denn wenn du es nicht tust, rührt sich das Schiff nicht vom Fleck. « Der König lief, so schnell er konnte, zu seinem Palast zurück, fand seine Taube und fragte sie, ob sie ihn begleiten oder ob er ihr etwas mitbringen solle aus dem Land der schönsten Mädchen. Da sprach sie:

»Bring mir ein Stück vom Steine >Brich-die-Herzen<, Der Lachen mit sich bringt und tränenreiche Schmerzen, Und auch ein Stück vom Frauenhaar, das blüht Und Leben oder Tod stets nach sich zieht. «

Der König versprach ihr, mitzubringen, was sie sich wünschte, und eilte zu seinem Schiffe zurück. Der Kapitän lichtete erneut die Anker, hisste die Segel, und sogleich stellte sich ein Windstoß von vierfacher Stärke ein, so dass das Schiff wie ein Pfeil übers Meer schoss und bald das Land der schönsten Mädchen erreichte. Der König verließ mit seinen sieben Weisen das Boot und ging an Land, um alle heiratslustigen

Mädchen zu besuchen. Sie kamen zu Dutzenden, Hunderten, ja Tausenden von Mädchen, aber dem König wollte keines gefallen. Drei Wochen lang zog der König mit seinen Getreuen über Land, sie sahen Mädchen und junge Frauen in Hülle und Fülle, aber keine erregte beim König ein Gefühl der Freude oder Liebe, und schließlich meinten die sieben Weisen, es bleibe wohl nichts anderes übrig, als ins Land der noch schöneren Mädchen zu reisen, um dort weiterzusuchen. So kehrten sie zu ihrem Schiff zurück und segelten weiter ins Land der noch schöneren Mädchen. Auch dort sahen sie Tausende und aber Tausende von Mädchen und Damen, hübschen und schönen, klugen und galanten, aber das Herz des Königs blieb kalt und konnte sich nicht für eines der Mädchen entzünden. Da hielten die sieben weisen Ratgeber des Königs es für das Beste, ins Land der zweimal so schönen Mädchen weiterzureisen. Wiederum segelten alle drei Wochen lang über das Meer, bis sie ans Ufer des Landes kamen, wo die zweimal so schönen Mädchen wohnen. Und wiederum besah der König alles, was einen Rock trug und heiraten wollte, aber sein Herz wurde nicht verzaubert.

So durchfuhren der König und seine Getreuen sieben Länder mit schönen und immer noch schöneren Mädchen, aber alles war vergebens, denn dem König wollte keine gefallen. Schließlich versammelten sich die sieben Weisen und hielten Rat, was nun weiter werden solle. »Es bleibt nichts anderes übrig«, sagten sie, »als wieder nach Hause zurückzukehren. « Als sie jedoch absegeln wollten, rührte sich das Schiff nicht vom Fleck. Da sprach der Kapitän: »Ist vielleicht jemand unter uns, der noch etwas vergessen hat? « Da fiel dem König ein, was er der Taube versprochen hatte, ehe er abgereist war, und er ging sofort an Land und suchte alle Geschäfte auf, die es da gab, und fragte nach dem Stein >Brich-die-Herzen< und nach dem blühenden Frauenhaar. Aber obwohl er alle Läden durchsuchte, nirgends konnte er finden, was er brauchte. Alle Leute sagten ihm, es gäbe keinen Stein, der Lachen und Weinen erregen könne, und blühendes Frauenhaar wachse nirgends. Über dem Suchen war es Abend geworden, und der König war ganz müde und traurig, denn er dachte schon, nun werde er nie in sein Reich zurückkehren können. Als er eben wieder aufs Schiff gehen wollte, bettelte ihn eine Alte an. Der König gab ihr ein reichliches Almosen. Da fragte die Alte: »Herr, warum schaut Ihr so traurig drein? « — »Mütterchen, ich suche etwas und kann es nicht finden. « — »Was soll es denn sein? « Forschte die Alte weiter. » Höre mich an, Mütterchen«, antwortete der König, »vielleicht kannst du mir sagen, wo man folgendes finden kann:

Ein Stück vom Steine >Brich-die-Herzen<,
Der Lachen mit sich bringt, und tränenreiche Schmerzen,
Und auch ein Stück vom Frauenhaar, das blüht,
Und Leben oder Tod stets nach sich zieht. «

Die Alte sagte: »Wenn es nicht mehr ist, da kann ich dir schon raten. Wenn du von der Stadt aus sieben Stunden nach Süden gehst, findest du zwei hohe Gebirge. Auf dem Gipfel des einen Berges liegt ein weißer Stein, der ist aus den Tränen eines Mädchens gemacht, das seinen toten Bräutigam beweinte. Es weinte so lange und so bitterlich, dass die Tränen zu Stein wurden. Das ist

Der Stein >Brich-die-Herzen<
Der Lachen bringt und tränenreiche Schmerzen.
Wenn du aber den andern Berg ersteigst, so kannst du auf dem Gipfel ein Frauenhaar finden, das ist das einzige auf der Welt, das blüht; es ist
Das Frauenhaar, das blüht
Und Leben oder Tod stets nach sich zieht. «

Da war der König sehr glücklich und dankbar für diesen Rat. Am nächsten Morgen, Gott steh ihm bei! machte er sich gleich auf den Weg zu jenem Gebirge. Richtig fand er sowohl den Stein >Brich-die-Herzen< als auch das blühende Frauenhaar, nahm beides mit und kehrte zum Schiff zurück. Dort fand er den Kapitän und die sieben Weisen ganz verzweifelt vor, denn sie hatten befürchtet, der König werde nicht heimkehren können. Schnell lichteten sie die Anker, spannten die Segel auf und eilten mit vierfacher Windstärke übers Meer zurück in das Reich des Königs. Dort wartete das ganze Volk schon mit großer Ungeduld, denn alle wollten die Prinzessin sehen, die der König mitbringen sollte, aber zu ihrem großen Erstaunen kehrte er als Junggeselle heim. Nun geschah es, dass der König, der sehr fromm war, sich jeden Tag mit der Morgenröte erhob, um mit seiner Dienerschaft zur Messe zu gehen. Er hatte aber einen Diener, der war ein Langschläfer und konnte morgens nie munter werden. Eines Tages verschlief dieser wiederum und wurde so spät wach, dass der König mit seinem ganzen Gefolge schon unterwegs war, ehe er sich auch nur erhoben hatte. Schnell stand er auf, zog sich an und machte sich mutterseelenallein auf den Weg in die Kirche. Als er so durch die verlassenen Straßen ging, hörte er eine Stimme, die klagte:

»O Stein >Brich-die-Herzen<,
Der Lachen mit sich bringt und tränenreiche Schmerzen,
Was stillst du nicht der bittern Tränen Not!
Und — o du Frauenhaar, das blüht
Und Leben oder Tod stets nach sich zieht,
Wann nimmst das Leben du und bringst den Tod! «

Der Diener blieb verwundert stehen und lauschte der Stimme. Erst als sie geendet hatte, setzte er den Weg fort und betrat die Kirche, als man eben das Messbuch zuschlug. Der König bemerkte den Diener, der so verspätet eintrat, und war sehr verärgert. Er ging hin und tadelte ihn, aber der Diener bat um Verzeihung und erzählte dem König von jener Stimme und wie sie so sehr geklagt habe, dass er über dem Zuhören sich verspätet habe. Der König glaubte ihm nur halb und hielt alles für eine Ausrede.

Am andern Morgen erwachte der Langschläfer wieder zu spät, und der König bemerkte, als er schon mit seinem Gefolge auf dem Wege in die Kirche war, das Fehlen des verschlafenen Dieners. Er setzte seinen Weg in die Kirche fort, indes der Diener allein im Palast war und sich mit großer Verspätung auf den Weg machte. Als er an dem gleichen Hause vorbeikam wie am vorherigen Tage, hörte er wiederum die Stimme, die klagte:

»O Stein >Brich-die Herzens
Der Lachen mit sich bringt und tränenreiche Schmerzen,
Was stillst du nicht der bittern Tränen Not!
Und — o du Frauenhaar, das blüht
Und Leben oder Tod stets nach sich zieht,
Wann nimmst das Leben du und bringst den Tod! «

Der Diener konnte nicht weitergehen, sondern musste stehenbleiben, bis er alles gehört hatte. So kam er wieder erst zum Ende der Messe in die Kirche, und der König schalt ihn gehörig aus. Der Diener versuchte sich zu entschuldigen und erzählte, was ihm auf dem Wege zugestoßen sei. Der König beschloss nun, sich über alles Klarheit zu verschaffen. Am nächsten Morgen schickte er die gesamte Dienerschaft zur gewohnten Stunde in die Kirche, er selbst aber blieb im Palast und machte sich erst verspätet auf den Weg. Er lauschte bei jedem Schritt — horch auch du! —, und richtig hörte er die Stimme, die klagte:

»O Stein >Brich-die-Herzen<,
Der Lachen mit sich bringt und tränenreiche Schmerzen,
Was stillst du nicht der bittern Tränen Not!
Und — o du Frauenhaar, das blüht,
Und Leben oder Tod stets nach sich zieht,
Wann nimmst das Leben du und bringst den Tod! «

Der König lauschte der Stimme und wollte wissen, woher sie komme. Da merkte er, dass sie aus dem eigenen Palast kam, und eilends ging er der Stimme nach und fand die Taube, denn sie war es, die gesprochen hatte. Da fragte der König sie: »Nun, was gibt es denn, mein Täubchen, dass du sterben willst? « — »Ach, Herr König, wenn du mein Unglück kennen würdest! Meine Mutter war eine junge Witwe. Eines Tages ließ der König verkünden, er würde sich mit derjenigen vermählen, die über ein Bett aus Rosen springen könnte, ohne ein Blatt oder eine Blüte zu knicken. Meine Mutter tat den Sprung und beschädigte weder Blatt noch Blume. Nach Ablauf einer gewissen Zeit wurde ich geboren, und als ich größer war, ging ich in die Schule. Eines Tages kam der König und versprach jedem Mädchen eine goldene Kette, ein andermal ein goldenes Nähkissen und zuletzt ein goldenes Nadelbüchsen. Meine Mutter wollte nicht, dass der König mir Geschenke mache, und gab mir eine schönere Kette, ein schöneres Nähkissen und ein schöneres Nadelbüchschen mit. Da wurde der König zornig und warf mich mit seinem goldenen Nadelbüchschen. Eine böse Hexe aber stieß mir eine der Nadeln in den Kopf, und so wurde ich zur Taube. Ich kam in den Palast des Königs und weiß seit vielen Jahren nichts von meiner Mutter.«

Als der König das alles hörte, wollte ihm schier das Herz brechen. Er nahm die Taube zärtlich auf den Schoß und suchte behutsam auf ihrem Kopfe nach der Nadel. Als er sie gefunden hatte, zog er die Nadel heraus, und sogleich verwandelte sich die Taube in ein Mädchen von fünfzehn Jahren. Das Mädchen war so schön und hübsch, so zierlich und lieblich, wie der König noch nie eines gesehen hatte. Er fragte sie gleich, ob sie ihn nicht heiraten wolle. Das Mädchen antwortete: »Ja, aber zuvor will ich gehen, um meine Mutter zu sehen. « Da gingen sie beide hin zu dem Rosenhaus in der Rosenstraße, und als sie dort ankamen, fanden sie die Tür offen. Sie gingen hinein und suchten überall — suche auch du mit! —, aber sie konnten sie nirgends finden. Endlich kamen sie in die innerste Kammer: da lag die arme Mutter tot auf dem Bett, aber so frisch und reizend, wie sie im Leben gewesen war. Da gingen sie hin und bestatteten sie, und als sie von der Beerdigung heimkehrten, hielten sie Hochzeit. Sie lebten fortan immer glücklich und zufrieden und hatten viele Kinder.

Das ist das Märchen von Maria Roseta. Wenn es dir gefällt, iss es gebacken; wenn es dir nicht gefällt, wirf es aufs Dach!